Nordirland-Streit Johnson droht mit neuem Brexitdrama

Britischer Premier Johnson: Vertrauen verspielt
Foto: Yui Mok / dpaNach Jahren des Ringens um den Brexit, nach unzähligen Ankündigungen, Versprechen, Kurswechseln und Volten der britischen Regierung dachten die Unterhändler in Brüssel eigentlich, alles gesehen zu haben. Doch jetzt haben sich die Briten wieder etwas Neues ausgedacht: Sie wollen neu verhandeln, ohne zu sagen, dass sie neu verhandeln wollen.
Man wolle das Nordirland-Protokoll gar nicht aufschnüren, beteuert London – verlangt aber zugleich massive Änderungen an dem Vertrag und droht, ihn notfalls einseitig aufzukündigen. Die EU aber lehnt Neuverhandlungen strikt ab. Dem Post-Brexit-Verhältnis zwischen der EU und Großbritannien droht damit schwerer Schaden, noch bevor es richtig begonnen hat.
Das Nordirland-Protokoll soll sicherstellen, dass es auf der irischen Insel keine neue harte Grenze gibt, die den brüchigen Frieden in dem ehemaligen Bürgerkriegsland gefährden würde. Zugleich soll es den Binnenmarkt der EU vor unkontrollierten Einfuhren aus dem Vereinigten Königreich schützen, indem es die Zollgrenze praktisch auf die irische See verlegt.
»So kann es nicht weitergehen«
Das aber, so sieht es zumindest die britische Regierung, funktioniert nicht. »So wie bisher kann es nicht weitergehen«, sagte der britische Brexit-Beauftragte David Frost am Mittwoch. Am Donnerstag griff der britische Premier Boris Johnson höchstpersönlich zum Telefon und sprach erst mit Kommissionschefin Ursula von der Leyen, dann mit Bundeskanzlerin Angela Merkel.
Sein Erfolg war offenbar begrenzt: »Wir werden nicht neu verhandeln«, twitterte von der Leyen nach dem Gespräch. Zwar werde man weiterhin »kreativ und flexibel« sein – aber nur »im Rahmen des Protokolls«.
Diesen aber will Johnson offenbar verlassen, wie er von der Leyen und anschließend auch Merkel erklärte. Die derzeitige Umsetzung des Protokolls sei »unhaltbar«, sagte Johnson nach Angaben einer britischen Regierungssprecherin. Lösungen könnten »mit den bestehenden Mechanismen des Protokolls nicht gefunden werden«.
Eine offizielle Stellungnahme der Bundesregierung zu dem Telefonat lag nicht vor, aus Berliner Regierungskreisen war aber zu hören, dass Merkel keine wesentlich andere Position vertreten habe als von der Leyen. Mit anderen Worten: Ihre Antwort war ein Nein. Denn was Johnson verlangt, liefe wohl auf eine weitgehende Neuverhandlung des Nordirland-Protokolls hinaus – »und darauf hat in Brüssel und den anderen Hauptstädten niemand Lust«, wie es ein EU-Diplomat ausdrückt.
Das hat vor allem zwei Gründe. Der erste ist der schiere Umfang der britischen Forderungen. Sie wollen unter anderem
alle Zollkontrollen bei Einfuhren von Großbritannien nach Nordirland beenden und sie durch Prüfungen der Versorgungsketten der Unternehmen ersetzen,
neue Strafen für Händler, die sich nicht an die Regeln halten,
den EU-Institutionen und insbesondere dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) die Verantwortung für die Durchsetzung des Nordirland-Protokolls nehmen.
Aus Sicht der EU dürften diese Forderungen nicht nur inhaltlich indiskutabel sein. Ihre Erfüllung würde auch das Mandat sprengen, das die Mitgliedsländer der EU-Kommission gegeben haben. Ein neues müssten alle 27 EU-Staaten bei einem Gipfel neu aushandeln und einstimmig beschließen – obwohl es nur ein halbes Jahr her ist, dass Johnson die Verabschiedung des aktuellen Nordirland-Protokolls als großen Sieg gefeiert hat.
Drohung mit der »nuklearen Option«
Der zweite Grund für die ablehnende Haltung der EU: Sie vertraut Johnson schon lange nicht mehr. Zwar beteuern die britischen Unterhändler, dass das Nordirland-Protokoll jetzt aber wirklich langfristig funktionieren würde, wenn die EU nur die wenigen Forderungen der britischen Regierung erfüllen würde.
Derartige Versprechen aber hat man von Johnson schon oft gehört. In Brüssel herrscht nicht erst seit dieser Woche der Verdacht, dass die britische Regierung das Nordirland-Protokoll nicht verbessern, sondern torpedieren will – indem sie es immer weiter durchlöchert. Dafür spricht aus Brüsseler Sicht, dass London große Teile des Vertrags bisher noch gar nicht umgesetzt hat. »Wenn das geschehen ist, kann man vielleicht über größere Änderungen reden«, sagt ein Diplomat. »Vorher nicht.«
Hinzu kommt, dass die britische Regierung ihre Forderungen sofort mit Drohungen einseitiger Maßnahmen flankierte. Der Brexit-Beauftragte Frost etwa bezeichnete Artikel 16 des Protokolls als »legitimes Werkzeug«, auch wenn man es jetzt noch nicht einsetzen wolle. Der Passus erlaubt es beiden Seiten, einseitig Gegenmaßnahmen zu ergreifen, sollte der Vertrag zu ernsten wirtschaftlichen, ökologischen oder gesellschaftlichen Störungen führen. In britischen Medien wird er auch »nukleare Option« genannt.
Es wäre nicht das erste Mal, dass die britische Regierung auf eigene Faust agiert – oder es zumindest versucht. Vergangene Woche etwa teilte sie der EU mit, drei Milliarden Pfund weniger für Leistungen aus der Zeit ihrer EU-Mitgliedschaft zahlen als geplant. Im März hatte London bereits eigenmächtig eine Übergangsphase für Lebensmittellieferungen nach Nordirland verlängert. Die EU-Kommission reagierte mit einem Vertragsverletzungsverfahren, das am Ende zu einer Klage vor dem EuGH führen könnte.
Wenn London Artikel 16 auslösen sollte, könnte die Kommission ihrerseits mit Gegenmaßnahmen reagieren, etwa mit Strafzöllen auf britische Importe. Zwar wird es zu einer solchen Eskalation wohl nicht sofort kommen, da erst einmal die Sommerpause ansteht. Spätestens im September aber droht der Konflikt wieder heißer zu werden, unter anderem weil dann das Ende der von London eigenmächtig verlängerten Übergangsfrist naht.
Immerhin verkündete die britische Regierung nach dem Telefonat zwischen Johnson und von der Leyen auch eine gute Nachricht: »Sie haben sich geeinigt, in Kontakt zu bleiben.«