NS-Verfahren "Die Deutschen sind sich selbst schuldig, gegen Demjanjuk vorzugehen"
SPIEGEL: Vor der Abschiebung nach Deutschland vergangene Woche wollten die USA John Demjanjuk schon an die Ukraine und an Polen übergeben. Die lehnten ab. Warum soll er nun in Deutschland vor Gericht kommen?
Frei: Die bundesdeutsche Justiz konnte gar nicht ausweichen. Das gründet in der komplizierten Geschichte der strafrechtlichen Ahndung von NS-Verbrechen in der Bundesrepublik, die sich aus skandalösen Anfängen heraus entwickelt hat und nun ihrem Ende entgegengeht.
SPIEGEL: Der Prozess gegen einen 89-Jährigen als PR-Coup der deutschen Justiz?
Frei: Nein. Hier geht es um Prinzipien des Rechts; darum, dass Mord und die Beihilfe zum Mord nicht verjähren. Außerdem sind es die Deutschen den Opfern und den Überlebenden - aber auch sich selbst - schuldig, dass sie gegen Demjanjuk vorgehen.
SPIEGEL: Dennoch ist es eine Premiere, dass Deutschland einen mutmaßlichen ausländischen SS-Schergen vor Gericht stellen will für die Beihilfe zu Taten, die außerhalb Deutschlands begangen wurden.
Frei: Sobibor und die anderen Vernichtungslager im heutigen Polen wurden in deutscher Regie und in deutscher Verantwortung betrieben. Deshalb ist es richtig, dass die deutsche Justiz einem, der dort Aufseher war, den Prozess machen will.
SPIEGEL: Dass die Taten nach dem Plan und der Anleitung deutscher Dienststellen geschahen, ist lange bekannt. Das reicht aus, um Ermittlungen in Deutschland zu begründen. Warum hat die bundesdeutsche Justiz nicht früher nach ausländischen Kollaborateuren gefahndet?
Frei: Zunächst einmal muss sie diese Täter identifizieren, was nicht einfach ist. Ihre Namen tauchen selten auf, und wenn, dann in oft unterschiedlichen Schreibweisen. Die Dokumente sind verstreut. Gibt es stichhaltige Beweise, ist es aufwendig, Beschuldigte ausfindig zu machen und nach Deutschland zu bekommen - siehe Demjanjuk. Es müssen Rechtshilfeersuchen gestellt werden, Auslieferungsanträge, das kann Jahre dauern. Die Rechtssysteme der einzelnen Staaten laufen da teilweise gegeneinander.
SPIEGEL: Bei Demjanjuk gelang es nach jahrelangem Tauziehen.
Frei: Der Fall ist gut belegt, durch die Verfahren zur Aberkennung der US-Staatsbürgerschaft und durch das Verfahren gegen Demjanjuk in Israel von 1987 bis 1993. Zentrale Dokumente liegen seit Jahren vor. Aber erst in den vergangenen Jahren konzentrieren sich die Ermittler auf die wenigen noch aussichtsreichen Fälle.
SPIEGEL: Ein Prozess gegen Demjanjuk wäre der womöglich letzte große NS-Fall auf deutschem Boden. Was erwarten Sie von einem solchen Verfahren?
Frei: Justiz findet nicht im luftleeren Raum statt. Alle großen NS-Prozesse, sei es der Auschwitz-Prozess von 1963 bis 1965 in Frankfurt am Main oder der Majdanek-Prozess von 1975 bis 1981 in Düsseldorf, leisteten mehr, als über die Schuld der Angeklagten zu befinden. Sie klärten über die Verbrechen auf und halfen, ein Bewusstsein für die historischen Zusammenhänge zu schaffen.
SPIEGEL: Anders als in den sechziger Jahren sind die meisten Tatkomplexe mittlerweile gut erforscht und bekannt. Was sollen die Deutschen noch lernen über den Holocaust?
Frei: Das Wissen über die Vernichtungslager der Aktion Reinhardt, Sobibor, Belzec, Treblinka - ist nicht so verbreitet wie die Kenntnisse über die Konzentrationslager auf deutschem Boden oder über den Lagerkomplex im annektierten Auschwitz. Auch das Zusammenwirken von Deutschen und ausländischen Kollaborateuren bei Deportationen und Tötungsaktionen ist erst in den vergangenen Jahren stärker in den Blick der historischen Forschung gerückt.
SPIEGEL: Mit Demjanjuk soll nun wieder ein untergeordneter Täter vor Gericht. Was ist mit den tatsächlich für den Holocaust Verantwortlichen?
Frei: Die Initiatoren und die sogenannten Schreibtischtäter sind ja durchaus auch belangt worden. Ausgehend vom Internationalen Militärtribunal der Alliierten in Nürnberg ab 1945 versuchte man der Täter von oben nach unten habhaft zu werden, nicht umgekehrt. Nur war in der entscheidenden Phase der Ahndungswille nicht sehr ausgeprägt, um es milde zu sagen. Davon profitierten sowohl die Planer als auch die ausführenden Täter.
SPIEGEL: Wann war das?
Frei: Vor allem in den fünfziger Jahren, nachdem die Alliierten die juristische Zuständigkeit in deutsche Hände übertragen hatten. Von 1950 auf 1951 beispielsweise ging die Zahl der rechtskräftig von deutschen Gerichten verurteilten NS-Verbrecher von 809 auf 259 zurück, danach gab es praktisch einen Stillstand. Die deutschen Richter und Staatsanwälte legten eine aktive Bereitschaft an den Tag, die Dinge schleifen zu lassen. Oder sie billigten den Tätern mildernd einen "Befehlsnotstand" zu, den es, wie wir heute wissen, so gar nicht gab.
SPIEGEL: Was waren die Folgen für die Rechtsprechung?
Frei: Mit diesem Konstrukt konnten viele Täter ihre Schuld verschleiern. Noch fataler war der mangelnde Ahndungswille: In den fünfziger Jahren hätte die Justiz Verantwortliche für Totschlagsverbrechen belangen können. Das war mit der Verjährung des Totschlags ab 1960 nicht mehr möglich, nun musste der weit schwierigere Nachweis des Mordes geführt werden. Die Versäumnisse dieser frühen Phase konnte die deutsche Justiz nie mehr aufholen.
SPIEGEL: Versuchte sie es denn?
Frei: Die skandalösen Mängel, auch die Empörung darüber im Ausland, führten seit den späten fünfziger Jahren zu einer Gegenbewegung einzelner engagierter Juristen. Der hessische Generalstaatsanwalt und Remigrant Fritz Bauer beschritt mit dem Auschwitz-Prozess neue Wege: Er holte Gutachten von Historikern ein, er band Opfer als Nebenkläger ein - ein Standard, der bis heute in NS-Verfahren gehalten wird.
SPIEGEL: Und wie fügt sich der Fall Demjanjuk in diese Strafgeschichte ein?
Frei: Er liegt eindeutig in der Schlussphase, schon aus biologischen Gründen. Die Täter sterben aus.
Bilanz nach mehr als 100.000 Verfahren gegen NS-Täter
SPIEGEL: Die Bilanz der Strafverfolgung von NS-Tätern lässt sich längst ziehen: Über 100.000 Verfahren führten hierzulande gerade einmal zu 6500 Verurteilungen.
Frei: Die Zahl der Verurteilungen oder die Höhe der Strafzumessung darf nicht allein das Kriterium dafür sein, ob die Strafverfolgung erfolgreich war oder nicht.
SPIEGEL: Was sonst?
Frei: Es ging auch darum, das Wissen über die NS-Verbrechen in der Gesellschaft zu verankern. In den fünfziger Jahren wurde der Holocaust dem Tatwillen einer kleinen Führungsclique - Hitler, Himmler, Heydrich - zugeschrieben. Inzwischen wissen wir es besser, nicht zuletzt dank diverser Prozesse.
SPIEGEL: Kamen nicht trotz dieses Wissens zu viele ungeschoren davon?
Frei: Sicher. Doch schätzungsweise ein Drittel der deutschen Täter kam wegen ihrer Taten in der NS-Zeit zu irgendeinem späteren Zeitpunkt mit der Justiz in Berührung. Wenn auch die wenigsten verurteilt wurden, konnten sie sich doch nicht sicher fühlen. Das hat mit dazu beigetragen, dass sich diese Leute an die neue Demokratie anpassten.
SPIEGEL: Stehen nicht andere Länder besser da, die deutsche Täter und einheimische Kollaborateure weniger sanft behandelten, beispielsweise die frühere Sowjetunion oder Polen?
Frei: Die Sowjetunion kann tatsächlich eine große Zahl an Verurteilungen vorweisen, aber darunter waren viele deutsche Kriegsgefangene, die aufgrund von hohen pauschalen Strafen zur Zwangsarbeit herangezogen werden sollten. Und nach vernünftigen Anfängen - übrigens gerade in Polen, etwa im Prozess gegen den Auschwitz-Kommandanten Rudolf Höß - wurde die Rechtsprechung im beginnenden Kalten Krieg rasch ideologisch überformt. Die Westalliierten lieferten deshalb ab 1947/48 keine deutschen Angeklagten mehr in die sowjetischen Einflusszone aus.
SPIEGEL: Worauf gründete denn die Strafverfolgung von NS-Tätern im Westen?
Frei: Auf der Idee, den präzedenzlosen Verbrechen des Nationalsozialismus mit den Mitteln des Rechts zu begegnen und nicht etwa mit summarischen Erschießungen. Das war ein schwieriger Lernprozess mit vielen Mängeln und Pannen, und viele der frühen Unterlassungen sind im Rückblick auf schwer erträglich. Aber die gesellschaftliche Stigmatisierung der Verbrechen nicht zuletzt durch die Prozesse hat funktioniert.
SPIEGEL: Diesen Erfolg kann sich also die deutsche Justiz zugute halten?
Frei: Sie hat sich in den letztenden Jahrzehnten in wachsendem Maße bemüht, dort, wo es noch möglich ist, Recht zu sprechen. Aber ohne den politischen Willen der Alliierten, vor allem der Amerikaner, wäre das nach 1945 nicht in Gang gekommen - und ohne fortgesetzten Druck von außen in den fünfziger Jahren wohl vollends versandet.