NS-Vergangenheit Der lebenslange Schatten

Weil Hilde Schramm sich für jüdische Frauen und ehemalige NS-Zwangsarbeiter einsetzt, soll ihr der Moses-Mendelssohn-Preis verliehen werden. Aber nicht, wie zunächst geplant, in einer Berliner Synagoge - der Chef der jüdischen Gemeinde hatte dagegen protestiert. Schramm ist die Tochter des NS-Architekten Albert Speer.
Von Mia Raben

Berlin - Wer ein Interview mit Hilde Schramm führen möchte, der muss ihr zuerst zwei Dinge versprechen: Der längste Teil des Gespräches soll über ihre Arbeit gehen, und nicht, wie es die meisten Journalisten wollen, über ihr Leben als Tochter von Albert Speer. Außerdem muss am Ende des Artikels eine Kontonummer ihrer Stiftung "Zurückgeben" stehen. Damit die Leser spenden können. Einverstanden.

Hilde Schramm, 68, lebt im Berliner Außenbezirk Lichterfelde West. Am S-Bahnhof altern Güterwaggons auf den Abstellgleisen. Eine hoch gewachsene Tanne steht mitten auf dem Bahnsteig. Vor dem Bahnhof verkauft ein Mann mit roten Wangen selbst angebautes Gemüse. Die Häuser haben hier, wo entlang der Hauptstraße üppige Kastanien wachsen, selten mehr als zwei Stockwerke.

Hilde Schramm wohnt in einer großen Mietsvilla mit elf Freunden in einer Hausgemeinschaft. Neben der schmalen Eingangstür lackiert ein junger Mann mit Rastazöpfen die Fenster, ein "Freund des Hauses", sagt sie. Vorbei an der Gemeinschaftsküche und dem Kinderfahrrad im Flur führen ein paar Stufen in ihre drei ineinander übergehenden, hellen, groß geschnittenen Altbau-Zimmer mit hohen Decken und Balkon zum Garten. Es riecht nach Holz.

Das Erbe des Vaters

Sie setzt sich hin und legt ihre gebräunten Hände auf den runden Tisch. Sie erzählt, wie an diesem Tisch vor knapp zehn Jahren acht Frauen beieinander saßen. Es waren "kluge, jüdische und nicht jüdische" Frauen: Wissenschaftlerinnen, Künstlerinnen, Politikerinnen - Freundinnen von Hilde Schramm. Sie diskutierten darüber, was mit den Gemälden geschehen soll, die Hilde Schramm und ihre Geschwister jetzt, da die Mutter gestorben war, von ihrem Vater geerbt hatten.

Albert Speer hatte zwischen 1933 und 1943 Bilder aus der Romantik auf dem Kunstmarkt erworben, die entweder aus Notverkäufen von verfolgten Juden oder aus enteignetem, jüdischem Besitz stammten. Kurz vor Kriegsende wollte der Vater die Bilder in einem Transport von Berlin aus nach Westen schaffen. Bei einem Fliegerangriff jedoch wurde der Großteil der Sammlung bei Hamburg im Bombenhagel zerstört.

Einige Bilder aber blieben unversehrt und lagerten jahrelang im Keller der Mutter. Die Frauen überredeten Hilde Schramm, die den Erlös der Anti-Kriegs-Bewegung in Jugoslawien zukommen lassen wollte, ein Projekt zu beginnen, in dem nun "ihr Herzblut steckt": Die Stiftung "Zurückgeben" zur Förderung von jüdischen Frauen, die künstlerisch oder wissenschaftlich arbeiten. Für 100.000 Euro verkaufte sie ihren Anteil an der verbliebenen Sammlung und schaffte so den Grundstock für die Entstehung der Stiftung.

"Ich will verstehen"

Ganz von selbst kommt die Mutter von zwei Kindern und Großmutter eines fünfjährigen Enkelkindes dann auf den Vater zu sprechen, als sie das Motiv ihrer ehrenamtlichen Arbeit für die eigene Stiftung, aber auch für den Verein "Kontakte" beschreibt, der ehemaligen Zwangsarbeitern in Osteuropa hilft. Sie will die Verbrechen der NS-Zeit, sie will ihren Vater verstehen.

"Eine Frage", sagt sie, "wird mich bis an mein Lebensende beschäftigen: Wie konnte ein im Kern so liebenswürdiger, sensibler Mensch wie mein Vater, der Ironie und Humor hatte und in meiner Erlebniswelt nicht besonders autoritär war, wie konnte so ein Mensch in diesem Regime seinen Platz finden und immer weiter mitmachen, bis er in unverzeihliche Verbrechen verstrickt war?"

Denn Albert Speer war nicht nur der geniale Architekt an Hitlers Seite, der einen "faustischen Pakt" geschlossen hatte, wie ihn manche Historiker dargestellt haben. Er war ein Kriegsverbrecher, unter dessen Leitung ab 1937 die Wohnungen Berliner Juden zwangsgeräumt wurden. Ab 1943 war er Reichsminister für Rüstung und Kriegsproduktion. Im neuen Doku-Drama von Heinrich Breloer, das im kommenden Frühjahr in der ARD ausgestrahlt werden soll, hat Hilde Schramm sich, zusammen mit zwei weiteren Geschwistern, vor der Kamera geäußert.

Den Entschluss, für den Film drei Tage lang intensive Gespräche mit dem Regisseur zu führen, mit ihm an verschiedene Orte zu gehen, fasste sie erst nach langen Gesprächen mit ihren Freunden, die ihr fast alle rieten, mitzumachen, weil es eben dazugehöre. Es sei doch interessant zu sehen, wie unterschiedlich die Geschwister mit der Vergangenheit umgehen, sagten sie. Sie solle mitmachen, um zu zeigen, dass ihre Generation sich für diesen Hintergrund nicht rechtfertigen braucht, dass man sich zwar mit ihm auseinander setzt, aber sich stark abgrenzen kann.

Früher sei sie viel strenger gewesen, sagt die ehemalige Vizepräsidentin des Berliner Abgeordnetenhauses selbst. Einmal wollte ein großer Fernsehsender ein Porträt mit ihr machen. Sie sagte ab, weil ihr Vater thematisiert werden sollte. Und warum spricht sie nun über ihn? "Vielleicht liegt es daran, dass ich jetzt nicht mehr Politik mache", sagt Hilde Schramm, die in den achtziger Jahren zweimal für die Grünen im Berliner Abgeordnetenhaus saß. "Aber ich bin ja auch älter geworden und vielleicht nicht mehr so empfindlich an dem Punkt. Damals hätte ich den Breloer-Film nicht gemacht."

"Ich kann auch heiter sein"

Den Schatten des Vaters hat sie lange ignoriert, auch bekämpft - los wird sie ihn bis heute nicht. Um sich Distanz zu verschaffen von der familiären Last, blickt sie nicht als Tochter, sondern als habilitierte Erziehungswissenschaftlerin auf die eigene Vergangenheit. Der analytische Ansatz schafft Distanz und entlastet sie zugleich. In den die Wände ausfüllenden Regalen reihen sich Bücher mit Titeln wie "Inszenierung der Macht" oder "Kultur des Friedens" aneinander. Rundherum stehen Ordner auf denen "Sinti und Roma Marzahn" oder "Gewalt Angst" zu lesen ist. "Ich kann auch leicht und heiter sein", sagt sie bestimmt. Einmal im Monat tanzen sie und ihre Freunde nebenan im Salon; Walzer, Tango und modernen Tanz. "Sie würden lachen", sagt sie. Hilde Schramm versucht, alles richtig zu machen und Ordnung zu halten in ihrem Leben, sogar unbeschwerte Momente haben einen Termin.

Dann wird sie wieder ernst. Wenn sie sich die Frage stellt, was aus ihr geworden wäre, wenn sie selbst während des Nationalsozialismus erwachsen geworden wäre, erschrickt sie. Mit ihrer Energie und ihren Fähigkeiten hätte sie wohl im Bund Deutscher Mädel sehr erfolgreich sein können, sagt sie selbst. "Woher nehme ich das Vertrauen, dass ich dieser Verführung nach Anerkennung nicht erlegen wäre? Wenn jeder sich diese Frage stellt, wird man nicht so selbstgerecht."

Wenn sie spricht, korrigiert sie sich oft, setzt noch mal an, scheint immer nach genau den richtigen Worten zu suchen. "Ich möchte gern hinter der Arbeit verschwinden, aber genau das geht nicht, weil ich ja mit meiner Person und indem ich nicht verschwinde, der Arbeit wieder nütze. Das ist mein Dilemma. So wie jetzt, dann springe ich über meine Scheu, gebe mir einen Ruck und mache ein Interview, weil ich weiß, dass es der Arbeit nützt."

Mit den Spenden für die Stiftung "Zurückgeben" will sie "fördern, was noch entstehen kann", sagt sie. Die Nachkommen aus überlebenden jüdischen Familien sind auch in ökonomischer und sozialer Hinsicht vom Holocaust betroffen. Darum will Hilde Schramm in der Anfangsphase helfen, wenn die Verwirklichung künstlerischer oder wissenschaftlicher Arbeiten von noch unbekannten, auch älteren, jüdischen Frauen gebremst wird von der Notwendigkeit, das eigene Dasein zu finanzieren.

Sie ruft jeden auf, "aus freien Stücken" Anteil zu nehmen und zu spenden, um zu zeigen, dass das Bewusstsein über die Nachwirkungen des Holocaust vorhanden ist. Viola Roggenkamp zum Beispiel stellte mit Hilfe eines Stipendiums ihren Roman "Familienleben" fertig. Die geförderte Pianistin Elzbieta Sternlicht konnte bisher unveröffentlichte Kompositionen von Fanny Hensel-Mendelssohn professionell aufnehmen.

Angst vor dem Frühjahr

Der Großvater dieser Komponistin war Moses Mendelssohn, jüdischer Philosoph und Aufklärer im 18. Jahrhundert. Nach ihm ist der Preis für Toleranz benannt, den Hilde Schramm nun doch schon am 6. September überreicht bekommt - und nicht wie geplant im November. Denn zum Auftakt der jüdischen Kulturtage in Berlin, so hatten es sich das Land Berlin als Preisstifter und die jüdische Gemeinde überlegt, könnte doch der Moses-Mendelssohn-Preis in einer Synagoge im Prenzlauer Berg überreicht werden. Schließlich steht Moses Mendelssohn in diesem Jahr im Mittelpunkt der Kulturtage. Aber als der Name der Preisträgerin bekannt wurde, zog Albert Meyer, Vorsitzender der Berliner jüdischen Gemeinde, sein Angebot zurück. Die Auswahl der Jury sei in diesem Zusammenhang ein "unnötiger Affront" für die ehemaligen Zwangsarbeiter in seiner Gemeinde. Daher findet nun die Preisverleihung in einer Kirche statt. "Sippenhaft" nennt das Elvira Grözinger, Mitglied der jüdischen Gemeinde und Tochter von Shoa-Überlebenden.

Hilde Schramm aber hat Verständnis für die Distanz. Sie glaubt, dass ihre Ehrung in einer Synagoge die Gefühle von Überlebenden irritiert. "Ich bin jetzt manchmal in der komischen Rolle, dass ich Herrn Meyer verteidige. Man würde so tun als gäbe es eine Normalität. Aber das ist nicht so", sagt sie. Vor dem Tag der Preisverleihung hat sie Angst. "Was soll ich denn sagen? Ich sehe meine Arbeit als selbstverständlich an."

Auch vor dem Frühjahr nächsten Jahres, wenn der Breloer-Film läuft, "graut es mir jetzt schon", sagt sie. Schaut sie ihn an? "Ja, muss ich ja", sagt sie und lacht. Allein? "Ja, vielleicht erst einmal allein und dann zusammen mit meinen Freunden. Ich überstehe es bestimmt. Ich hab schon einiges überstanden. Was Breloer daraus gemacht hat, weiß ich nicht. Es kann auch ziemlich schief gehen, denke ich. Ich werde es sehen."

Spendenkonto: Stiftung Zurückgeben Berliner Volksbank eG BLZ 100 900 00 Konto 523 2205 000 Eine Spendenquittung wird bei Vermeldung der vollständigen Adresse unaufgefordert zugesandt.

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