Urlauber aus Risikogebieten "Ohne Quarantäne geht es nicht"

Wegweiser zu Corona-Test am Dresdner Flughafen
Foto: Robert Michael/ dpa
Peter Tschentscher, 54, ist seit März 2018 Erster Bürgermeister der Hansestadt Hamburg. Zuvor war der SPD-Politiker mehrere Jahre Finanzsenator gewesen. Er gilt als enger Weggefährte von SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz.
SPIEGEL: Herr Tschentscher, Sie kritisieren scharf die Testpraxis bei Rückkehrern aus Corona-Risikogebieten. Was läuft da verkehrt?
Tschentscher: Seit Anfang August gibt es eine bundesweite Regelung, die fachlich nicht haltbar ist. Um nicht in Quarantäne zu gehen, reicht es, bei der Einreise einen negativen Test vorzulegen. Der darf dann auch noch bis zu 48 Stunden alt sein. Der Corona-PCR-Test wird aber erst vier bis fünf Tage nach einer Infektion positiv. In der gegenwärtigen Testpraxis haben wir also einen Zeitraum von bis zu einer Woche, in der sich Reisende infizieren und trotzdem bei der Einreise ein negatives Ergebnis vorweisen können. Sie gehen dann nicht in Quarantäne, wähnen sich in falscher Sicherheit und können weitere Menschen anstecken.
SPIEGEL: Das heißt, ohne Quarantäne geht es nicht?
Tschentscher: Ja, ohne Quarantäne geht es nicht. Ein Beispiel: Ein Urlauber lässt sich zwei Tage vor dem Rückflug testen und bekommt ein negatives Ergebnis. Er kann sich aber schon mehrere Tage vor dem Test angesteckt haben, auch nach dem Test noch, sogar noch im Flieger. Ähnlich ist es bei einem Rückkehrer, der sich am Flughafen in Deutschland testen lässt. Auch er kann sich bereits Tage vorher angesteckt haben, ohne dass es im Test auffällt.
SPIEGEL: Warum haben Sie die Regelung nicht verhindert, wenn sie in Ihren Augen falsch ist?
Tschentscher: Der Bundesgesundheitsminister hat dies im Laufe der Sommerwochen ohne Abstimmung mit den Ministerpräsidenten festgelegt - gegen das Votum Hamburgs in der Gesundheitsministerkonferenz. Das bedaure ich sehr. Wir werden uns dafür einsetzen, dass der Bund die Regelung korrigiert.
SPIEGEL: Wie wollen Sie das schaffen?
Tschentscher: Es wird in der kommenden Woche eine Ministerpräsidentenkonferenz geben, um über die aktuelle Corona-Lage zu beraten. Ich hoffe, dass dort eine sinnvolle Regelung zu Reiserückkehrern aus Risikogebieten beschlossen wird.
SPIEGEL: Wie genau sollte die neue Regelung aussehen?
Tschentscher: Alle Risikorückkehrer müssen fünf Tage Quarantäne einhalten und dann einen Test machen. Erst wenn dieser Test negativ ausfällt, dürfen sie wieder unter die Leute. Und ich halte es für vertretbar, dass Rückkehrer künftig für den Test selbst zahlen. Wer sich dafür entscheidet, mit einem Urlaub ein besonderes Risiko einzugehen, sollte auch für die Kosten aufkommen. Es dürfen nicht diejenigen im Nachteil sein, die sich verantwortlich zeigen und auf Urlaub in Risikogebieten verzichten.
SPIEGEL: Jens Spahn empfiehlt schon jetzt einen zweiten Test fünf bis sieben Tage nach der Rückkehr. Wäre es eine Lösung für das Problem, das Sie beschreiben, wenn man auch den zweiten Test verpflichtend macht?
Tschentscher: Nein. Auch dann müsste man bis zum zweiten Test in Quarantäne bleiben. Wir hätten damit nichts gewonnen und doppelten Testaufwand mit den entsprechenden Kosten. Außerdem sind wir schon jetzt am Limit mit den Testkapazitäten. Wir müssen die vorhanden Kapazitäten für die Fälle einsetzen, in denen die Tests sinnvoll und erforderlich sind.
SPIEGEL: Das sieht man in Bayern zum Beispiel anders. Dort können sich auch Rückkehrer testen lassen, die nicht in Risikogebieten waren.
Tschentscher: Eine Person ohne Symptome, die kein besonderes Infektionsrisiko hatte, muss man nicht testen. Bei einem Infektionsgeschehen in einer Einrichtung oder einem Unternehmen kann die Testung einer großen Zahl von Personen erforderlich sein. Ein Massenscreening der normalen Bevölkerung ist aber derzeit nicht sinnvoll und übersteigt die Testkapazitäten, die wir für die wirklich dringenden Fälle benötigen.
SPIEGEL: Ist das ein Appell an Länder wie Bayern, seine Praxis zu überdenken?
Tschentscher: Das ist ein Appell an alle, vernünftig zu bleiben und sich an die fachlichen Empfehlungen zu halten. Wenn wir anders vorgehen, haben wir für die dringenden Fälle keine Testkapazitäten mehr, und die Testdauer verlängert sich. In Hamburg hat sich die Zahl der Tests pro Tag von ursprünglich etwa 3500 auf mittlerweile fast 10.000 pro Tag erhöht. In den Labors sind die Reagenzien und anderen Verbrauchsmaterialien für die Corona-Analysen knapp. Das müssen wir ernst nehmen.
SPIEGEL: Hamburg ist den anderen Ländern voraus, weil die Ferien hier früh endeten, seit zwei Wochen ist wieder Schule. Wie ist die Corona-Lage an der Elbe?
Tschentscher: Ich halte die Lage derzeit für stabil. Wir haben seit zwei Wochen leicht erhöhte Infektionszahlen, aber das war wegen der Urlaubsrückkehrer zu erwarten. Mit dem Regelbetrieb in den Schulen gehen wir keine unvertretbaren Risiken ein. Die Schutzvorkehrungen wirken, etwa die Maskenpflicht und das Abstandsgebot, sonst hätten wir längst eine zweite Welle. Aber wir müssen weiterhin vorsichtig und diszipliniert bleiben.
SPIEGEL: Wird es weitere Lockerungen geben?
Tschentscher: Zurzeit sollten wir noch beobachten, wie sich die Infektionen durch Reiserückkehrer und die bisherigen Lockerungsschritte auswirken. Derzeit können zum Beispiel Vorstellungen in Kinos, Theatern und Konzertsälen unter Auflagen und mit einer begrenzten Zahl an Besuchern wieder stattfinden. Wenn es dabei zu keinen Ausbrüchen kommt, können wir weitere Lockerungen vornehmen, also auch größere Besucherzahlen erlauben.
SPIEGEL: Die Regeln unterscheiden sich je nach Bundesland deutlich - zum Beispiel bei der Maskenpflicht an Schulen oder bei Bußgeldern in öffentlichen Verkehrsmitteln. Ist das ein Problem?
Tschentscher: Darüber werden wir auf der Ministerpräsidentenkonferenz sicher sprechen. Ich halte es für wünschenswert, dass wir die Regeln stärker vereinheitlichen. Das habe ich seit Beginn der Pandemie so gesehen. Einheitliche Regeln, die man versteht, verbessern die Akzeptanz und damit auch die Einhaltung und Wirksamkeit unserer Maßnahmen.
SPIEGEL: Sie sind der einzige Mediziner unter den Regierungschefs der Länder. Was denken Sie als Fachmann: Wann können wir Corona besiegen?
Tschentscher: Mit einem guten Impfstoff ist das möglich. Derzeit kann aber niemand wissen, wann dieser zur Verfügung steht und ob es überhaupt gelingt, durch eine Impfung eine dauerhafte Immunität gegen das Virus zu bewirken. Ich halte es zwar für wahrscheinlich, dass die Entwicklung eines Impfstoffs gelingt, aber sicher ist es nicht. Dann müssten wir auf lange Zeit mit diesem Virus leben.