Sabine Rennefanz

Minderwertigkeitskomplexe Wem gehört der Osten?

Sabine Rennefanz
Eine Kolumne von Sabine Rennefanz
Rechte Gruppen versuchen das Wort »Ostdeutschland« als eine Art Kampfbegriff für sich zu vereinnahmen. Das sollte man ihnen nicht durchgehen lassen.
AfD-Demonstration in Berlin Anfang Oktober

AfD-Demonstration in Berlin Anfang Oktober

Foto: Geisler-Fotopress / picture alliance

1990 kannte ich den Begriff »Ostdeutschland« gar nicht, beziehungsweise gehörte er nicht zu meinem Wortschatz. Ich kam aus der DDR, Bezirk Frankfurt/Oder. Punkt. Nach der Wiedervereinigung wollte ich nur Deutsche sein, wie alle anderen, meinetwegen auch Brandenburgerin. Stattdessen tauchten neue Begriffe auf »Ossi«, »Jammerossi«, »Zoni«. »Zonenwachtel« lautete der Spottname für Angela Merkel in ihrer CDU. Ostdeutsch – das war ein Schimpfwort. In den vergangenen Jahren gab es Versuche, den Begriff positiver zu besetzen, um vielfältige deutsche Erfahrungen sichtbar zu machen.

In letzter Zeit wird das Wort allerdings zunehmend als Kampfbegriff benutzt, um politisches Kapital daraus zu schlagen. Jüngstes Beispiel: die AfD-Demonstration in Berlin Anfang Oktober. Am Anfang des Zuges in der Friedrichstraße lief ein Mann mit Megafon, er skandierte »Ost-Ost-Ost-Deutschland«. Die Menschen hinter ihm wiederholten den Ruf. Der Soziologe Steffen Mau, gebürtig aus Rostock, postete auf Twitter einen Ausschnitt der Demonstration, später sprach er über seine Beobachtungen im Radio . Er wies darauf hin, wie vor allem rechte Gruppen den Begriff »Ostdeutschland« zu besetzen versuchen, um die Gesellschaft zu spalten. Polarisierungsunternehmer nannte er sie.

Interessanterweise war der Mann, der das Megafon bei der Demo hielt, kein Ostdeutscher, sondern offenbar ein AfD-Funktionär aus Baden-Württemberg. Auch das ist kein neues Phänomen. In den frühen Neunzigern liefen die Nazis aus dem Westen bei den rechten ausländerfeindlichen Demos im Osten vorn mit, organisierten sie mit.

Neu ist aber, mit welcher Deutlichkeit der Begriff als Schlachtruf und Kampfansage besetzt wird. Es ist eine bösartig-clevere Taktik, die alle Klischees, die über den Osten existieren, aufnimmt und ins Gegenteil verdreht. Seit Jahren wird über »den Osten« als unbekanntes, dunkles Loch geschrieben. 2019 titelte der Spiegel »So isser, der Ossi«, illustriert mit einem schwarz-rot-goldenen Anglerhütchen, das genauso aussah wie der Hut, den ein berüchtigter Teilnehmer einer Pegida-Demo getragen hatte. Die Ossis, braun und irgendwie völkisch verseucht, war die Message, die hängenblieb, auch wenn die Unterzeile explizit darauf hinwies, dass es sich um ein Spiel mit Klischees handelte. Der Vizechef der Freien Presse aus Chemnitz, Sascha Aurich, erläuterte später im Spiegel, warum viele im Osten das Titelbild als plump empfanden.

Vom »Pulverfass Ostdeutschland« sprach kürzlich die »FAZ«, auch anderswo liest es sich, als stünde ein Umsturz im Osten kurz bevor. Ein Soziologe sieht den Beginn einer »faschistischen Bewegung auf der Straße« , ohne Belege für die große These zu liefern. Während Westdeutsche wie Harald Welzer mit ihren Thesen zum Krieg, zur Ukraine und Medien durch die Talkshows tingeln, Bestsellerlisten erklimmen, werden Ostdeutsche pathologisiert. Und im Fernsehen läuft die Endlosserie »Der Ostler, das fremde Wesen«, die neueste Folge konnte man sich vergangenen Montag bei Frank Plasbergs »Hart, aber fair« angucken. Wollte man das Ganze psychologisch betrachten, ist »Ostdeutschland« das ausgelagerte Böse, jeder Bericht über das »Pulverfass Ostdeutschland« lässt »den Westen« umso stabiler und ausgewogener erscheinen.

Ja, sagen nun die rechten Demonstranten, die »Ost-Ost-Ostdeutschland« skandieren, ihr habt völlig recht, wenn ihr uns fürchtet. Wir sind so böse und gefährlich, wie ihr sagt. Wir machen eure Ängste wahr. Sie versuchen, die vorhandenen Gräben auszuweiten, Hass und Unverständnis auf beiden Seiten zu vertiefen, weil sie auf die Klischees und Konflikte, die das Ost-West-Verhältnis prägen, zurückgreifen. Weil sie diese Konflikte womöglich viel besser verstanden haben als die Mitte-links-Parteien.

Sie machen sich ein Phänomen zunutze, das lang vor dem Krieg zwischen Russland und Ukraine entstand. Vor ein paar Jahren liefen die ersten Jungs in Brandenburg und anderswo mit T-Shirts herum, auf denen in Runenschrift »Ostdeutschland« stand. Man kann sie inzwischen in vielen Varianten bei Amazon kaufen, auch als Hoodie und Jacke. Sie werden auch von Leuten getragen, die in den Neunzigern noch von Nazis gejagt wurden. Der Begriff Ostdeutschland, der jahrelang mit Gefühlen des Minderwertigseins, des Abgehängtseins, Ausgegrenztseins verbunden war, wurde ins Gegenteil verkehrt. Nach dem Motto: »Dreißig Jahre haben wir uns angestrengt, so zu werden wie ihr, aber ihr wollt uns nicht«, sagen sie. »Wisst ihr was«, sagen sie, »wir wollen euch und eure blöden Werte, eure Phrasen von Solidarität auch nicht.«

Es entstand eine Art Underdog-Identität, vor allem in den ländlichen Regionen, in denen die Bevölkerung im Vergleich zum Stadtbewohner älter, männlicher, konservativer ist. Und nein, es ist dort nicht wie im Ruhrgebiet oder wie in anderen strukturschwachen Gebieten im Westen, denn im Westen gibt es immerhin ein gewachsenes Netz aus Vereinen, sozialen Angeboten, Kirchen, Gewerkschaften. Die westdeutsch geprägten Gewerkschaften werden wegen ihrer Beteiligung an der Deindustrialisierung Ostdeutschlands sowieso eher mit Skepsis betrachtet. Und dass die Gewerkschaften sich im Moment eher mit der Regierung zusammensetzen und zum Sprachrohr verkorkster Energiepolitik (Gaspreisbremse!) werden, statt den Konflikt zu suchen, hilft auch nicht.

Diesen Braindrain wie im Osten nach 1990, den gab es im Westen nicht. Es ist eher umgekehrt: Die westdeutschen Unternehmen haben massiv von diesen motivierten Arbeitskräften profitiert. Jahrzehntelang liefen die Jüngeren, die Frauen, die Gutausgebildeten weg. Wer was werden wollte, musste nach Berlin oder gen Westen gehen.

Was für einen starken Einfluss der demografische Wandel auf die Entstehung rechtsautoritärer Parteien und Strukturen hat, haben Ivan Krastev und Stephen Holmes in ihrem Buch »Das Licht, das erlosch« (2019) eindrücklich nachgewiesen. »Wenn in einem Land die Mehrheit der jungen Generation davon träumt wegzugehen, dann fühlen sich alle, die bleiben, als Loser, egal wie gut es ihnen geht ... Die Hysterie über nicht existierende Einwanderer, die dabei sind, das Land zu überrennen, stellt den Ersatz einer illusorischen Gefahr für die wirkliche Gefahr, Entvölkerung und demografischer Zusammenbruch, dar, die ihren Namen nicht aussprechen kann.«

Es ist doch auffällig, dass die derzeitigen Energieproteste vor allem in kleinen und kleineren Städten stattfinden. Hier gehen Menschen auf die Straße, die mit Begriffen wie der »offenen Gesellschaft« nichts anfangen können, weil sie sich schon seit Langem von gesellschaftspolitischen Diskursen ausgeschlossen fühlen. Es handele sich – neben sozialpolitischen und ökonomischen Gegensätzen – um einen Kampf zwischen »Mitte« und »Peripherie«, schreibt die Leipziger Autorin Marlen Hobrack in ihrem Buch »Klassenbeste« (2022). Sie nennt es ein Aufbegehren gegen die Mitte, das Zentrum, in dem all das produziert wird, was als gesellschaftliche Norm und zeitgemäße Politik gilt. Die Grünen mit ihren Schwerpunkten Klima- und Genderpolitik symbolisieren diese Norm wie keine andere Partei, deshalb ist auch die Ablehnung so stark und unverhältnismäßig groß.

Die Rechten nun hängen sich an diesen identitär-ökonomischen Kampf ran und versuchen, ihn als großen Kulturkampf umzudeuten. Das sollte man ihnen nicht durchgehen lassen, sondern etwas genauer hinschauen. Nicht weniger differenzieren, sondern mehr. Die Reaktionen aus der Politik sind allerdings eher dürftig.

Es ist nicht hilfreich, wenn der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) genauso pauschalisiert und so tut, als gebe es zum Beispiel zum Thema Ukrainekrieg eine einheitliche Meinung »der Ostdeutschen«. Statt um Geopolitik und imaginäre Gaslieferungen sollte er sich lieber um die Sicherheit in seinem Land kümmern und rechte Straftäter stärker verfolgen.

Es nützt aber auch nichts, immer wieder in Schreckstarre zu beschwören, wie extrem »die Ostdeutschen« angeblich sind. Von einer Massenbewegung auf der Straße kann wahrlich keine Rede sein: Am vergangenen Sonntag in Berlin gingen fast genauso viele Menschen für Freiheit in Iran auf die Straße, 80.000, wie in ganz Ostdeutschland jede Woche bei den Energieprotesten. Und auch nicht jeder, der in den kleinen Städten mitläuft, hat eine faschistische Ideologie oder ein abgeschlossenes Weltbild.

Und ja, die AfD kommt auf viel Zustimmung im Osten. Aber die große Mehrheit der Ostdeutschen – mehr als 70 Prozent – wählt nicht die AfD, brüllt keine Hass-Slogans, wedelt nicht mit Russlandfahnen. Sie sind der Mainstream. Den Extremisten gehört der Osten nicht.

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