Neuer Piratenchef Schlömer "Wir brauchen keine Meinung zu Israel"
Dem wohl wirksamsten Angriffspunkt ihrer Kritiker konnten die Piraten am Wochenende auf ihrem bislang größten Parteitag wenig entgegensetzen: Um politische Inhalte ging es auf dem Treffen in Neumünster nur am Rande. Die Piraten haben sich mit sich selbst beschäftigt, eine neue Führung gewählt und versucht, die Parteistrukturen zu professionalisieren.
Dabei rangen die Piraten um ihre Ideale. Der Vorstand bleibt weiterhin nur ein Jahr im Amt, wurde aber um zwei Köpfe erweitert. Es ist ein Kompromiss zwischen einer starken Basis und dem Druck, arbeitsfähiger werden zu müssen. Dafür setzten die Piraten, die sich seit Monaten mit Auseinandersetzungen um radikale Äußerungen aus ihren Reihen quälen, so deutliche Zeichen gegen Rechts wie noch nie: Sie verabschiedeten unter großem Jubel eine Erklärung, nach der man künftig keine Holocaust-Relativierung mehr dulden wolle.
Vor allem wählten die 1400 anwesenden Piraten eine neue Führungsriege. Der Star der Partei, die bisherige Geschäftsführerin Marina Weisband, verabschiedete sich aus dem Vorstand. Der bisherige Vizechef Bernd Schlömer soll die Aufsteiger nun in die kommenden Wahlkämpfe und auf den Weg zur Bundestagswahl 2013 führen. Zwei Drittel der Basis stimmte für den 41-Jährigen. Er kündigte an, das inhaltliche Profil der Piraten schärfen und mehr Mut zur eigenen Meinung zeigen zu wollen als Vorgänger Sebastian Nerz.
Zum Gespräch erscheint Schlömer mit seinem Markenzeichen, einem schmalen Künstlerschal: "Das ist meine Art von Krawatte", sagt er. Der Familienvater nimmt Platz in einer Nische zwischen abgewetzten Pappwänden. Er bittet um einen Kaffee ("Weiß, mit Zucker") - die Nacht war kurz.
SPIEGEL ONLINE: Herr Schlömer, was gehen Sie als neuer Piratenchef als Erstes an?
Schlömer: Wir müssen uns jetzt voll auf unser Wahlprogramm konzentrieren, die 17 Monate bis zur Bundestagswahl werden schnell vergehen.
SPIEGEL ONLINE: Was muss unbedingt ins Piratenprogramm?
Schlömer: Wir wollen unsere Inhalte noch überzeugender ausarbeiten. Das sind vor allem die Themen Urheberrecht, Datenschutz, Transparenz, Beteiligung und Bildung, Wirtschaft und Soziales.
SPIEGEL ONLINE: Sie wollen sich als Parteichef der Piraten stärker positionieren. Also bitte mal konkret: Was ist eine Stunde Arbeit wert?
Schlömer: Arbeit muss unabhängig von der Branche dazu führen, dass jeder Mensch auf eine sichere Existenz bauen und am gesellschaftlichen Leben teilhaben kann. Ich kann das nicht in Euro ausdrücken. Aber berufstätige Menschen müssen ihr Leben unabhängig organisieren können.
SPIEGEL ONLINE: Das heißt, Sie lehnen Mindestlöhne ab?
Schlömer: Ich verschließe mich dem nicht. Gute Antwort, oder?
SPIEGEL ONLINE: Geht so. Weiter: Rente mit 67?
Schlömer: Ich bin als Vorsitzender der Piratenpartei nicht automatisch Finanz- und Steuerexperte. Ich glaube aber, dass unsere Gesellschaft das feste Renteneintrittsalter über kurz oder lang abschaffen muss. Das ist aber meine persönliche Meinung.
SPIEGEL ONLINE: Sollte im Internet unter eigenem Namen gestritten werden?
Schlömer: Ich bin für anonyme Meinungsäußerung als digitales Grundrecht.
SPIEGEL ONLINE: Sind Sie für eine Frauenquote in der Wirtschaft?
Schlömer: Da setze ich auf die Philosophie, die viele große Unternehmen vertreten: Dass es auf Qualität ankommt, nicht darauf, dass man Frauen abzählt wie Elemente in einem metrischen Uhrenwerk. Und auch die Frauen selbst müssen Impulse geben, wie man das Ungleichgewicht aufheben kann.
SPIEGEL ONLINE: Die Piraten scheinen in Sachen Gleichberechtigung noch immer Nachholbedarf zu haben. Der neue Bundesvorstand ist wieder überwiegend männlich besetzt.
Schlömer: Wir müssen uns darauf konzentrieren, Talente zu fördern, sowohl männliche als auch weibliche. Als Parteivorsitzender kann und möchte ich diesen Prozess nicht steuern.
SPIEGEL ONLINE: Wagen wir einen Ausblick auf 2013: Haben Sie in einem Jahr Positionen etwa zum Nahost-Konflikt, der Pflege von Demenzkranken, der Euro-Krise?
Schlömer: Das kann ich Ihnen nicht sagen. Die interessantere Frage ist doch, ob das zwanghafte Besetzen aller Inhalte überhaupt notwendig ist. Muss jede Partei zu allen politischen Themenfeldern dezidierte Positionen vertreten? De facto haben selbst Volksparteien kein Vollprogramm. Sie müssen nur einmal die außenpolitischen Positionen aller Parteien durchlesen. Das ist alles hoch abstrakt und theoretisch.
SPIEGEL ONLINE: Heißt das, die Piraten können in den Bundestagswahlkampf ziehen, ohne einen Satz zum Nahost-Konflikt im Programm stehen zu haben?
Schlömer: Das kann ich mir vorstellen, ja. Wir brauchen bis 2013 nicht zwingend eine Meinung zu Israel. Ich glaube auch, dass der Wähler dies nicht bestrafen würde.
SPIEGEL ONLINE: Sie sind Referent im Bundesverteidigungsministerium. Sie arbeiten für die Regierung, und nun sind Sie Vorsitzender einer Oppositionspartei. Wie wollen Sie den Interessenkonflikt lösen?
Schlömer: Ich muss ihn gar nicht lösen. Das zeigt doch, dass wir anders sind: Bei uns können ganz normale Menschen Ämter einnehmen. Da kann es vorkommen, dass jemand Vorsitzender wird, der zugleich in einem Ministerium angestellt ist. Ich sehe da kein Problem.
SPIEGEL ONLINE: Und Ihr Arbeitgeber?
Schlömer: Was soll der dagegen haben? Uns gelingt es, Menschen für demokratische Prozesse zu gewinnen. Da muss sich doch jedes Ministerium freuen. Ich bin natürlich zur Loyalität und Verschwiegenheit verpflichtet. Aber ich kann den Job vom Amt trennen.
SPIEGEL ONLINE: Haben Sie schon mal mit Verteidigungsminister Thomas de Maizière geredet?
Schlömer: Einmal. Bei einem Empfang in Berlin standen wir nebeneinander. Da habe ich ihm die Hand gegeben und gesagt, dass ich von der Piratenpartei bin.
SPIEGEL ONLINE: Und was antwortete er?
Schlömer: "Guten Tag." Dann bin ich weitergegangen. Ich hatte den Eindruck, er weiß mittlerweile, wer ich bin. Ich nehme an, wenn ich im Ministerium in eine Besprechung gehe, dann wissen die meisten: Das ist der Pirat.
SPIEGEL ONLINE: Ihr Vorgänger Sebastian Nerz wurde von Teilen der Partei sehr hart angegangen, teilweise beschimpft. Sie gelten als ausgleichende Kraft in der Partei. Wird es Ihnen besser ergehen?
Schlömer: Ich werde genauso Kritik bekommen. Es heißt dann ja nicht plötzlich, der Bernd Schlömer ist ein netter Kerl, den lassen wir in Ruhe.
SPIEGEL ONLINE: Wie wollen Sie damit umgehen? Nerz wirkte gereizt, auch Marina Weisband wurde es zu viel.
Schlömer: Ich kann unseren Funktionsträgern nur raten, Gelassenheit zu zeigen und auch mal den Off-Knopf zu drücken. Das Ringen um Positionen muss auch mal drei Tage länger dauern, wir lassen uns zu leicht unter Druck setzen, auch von den Medien. Wir dürfen uns davon nicht treiben lassen. Man muss nicht die Twitter-Timeline ununterbrochen verfolgen.
SPIEGEL ONLINE: In der Partei herrscht ein rauer Umgangston. Wie wollen Sie daran etwas ändern?
Schlömer: Dass man Argumente auch emotional austauscht, ist richtig. Aber wir müssen am Umfang feilen und erreichen, dass auch Landes- und Kreisverbände stärker auf Probleme hinweisen, etwa wenn einzelne Mitglieder fragwürdige Gesinnungen verbreiten. Unsere Vorsitzenden in den Ländern und Kreisen müssen verstehen, dass auch sie Verantwortung haben in dieser Frage. Manchmal werden Probleme auf die Bundesebene geschoben.
SPIEGEL ONLINE: Wie wollen Sie als Piratenchef diese Verantwortung vorleben?
Schlömer: Ich muss mich schützend vor die Mitglieder stellen. Wenn sich jemand unbedacht äußert, muss ich sagen: Das ist ein Pirat und der gehört dazu.
SPIEGEL ONLINE: Das dürfte Ihnen schwerfallen bei antisemitischen und rechtsextremen Äußerungen, wie sie zuletzt fielen.
Schlömer: Das habe ich mir vorher überlegt, sonst hätte ich nicht kandidiert. Wenn man ein Jahr als Vorsitzender der Piratenpartei übersteht, kann man eigentlich fast jeden Job machen.