Parteitag in Freiburg Grüne fürchten den Soufflé-Effekt

Wiedergewählte Vorsitzende Roth und Özdemir: Keine Überraschungen in Freiburg
Foto: Thomas Niedermueller/ Getty ImagesEs ist ein bieder wirkender Herr, der den Parteivorderen die Schau stiehlt. Er steht da oben am Pult, graue Haare, grauer Anzug, er würde auch beim CDU-Bundesparteitag eine gute Figur machen. Dabei gibt es wohl keinen Grünen, der unter den Christdemokraten momentan so viel Angst verbreitet wie er. Denn der Grünenpolitiker Winfried Kretschmann könnte ab März die knapp 60-jährige CDU-Herrschaft in Baden-Württemberg beenden.
Kretschmann ist kein besonders guter Redner, zudem hat seine Stimme etwas Krähendes. Die "Kretsche, Kretsche"-Rufe, die nun durch die Freiburger Messehalle schallen, scheinen ihm fast unangenehm zu sein. Schüchtern hebt er nach seiner Rede ein paar Mal den Arm zum Dank, dann ist der Fraktionsvorsitzende und Spitzenkandidat für die Landtagswahl schon von der Bühne und verschwindet in den Reihen der Delegierten aus dem Ländle.
Sicher, Parteichef Cem Özdemir hat am Freitagabend minutenlangen Beifall bekommen. Die Delegierten klatschten stehend, genauso wie nach der Rede der Bundestags-Fraktionsvorsitzenden Renate Künast. Auch ihr Co-Chef Jürgen Trittin wird bejubelt, wenn er gegen die Atompolitik der schwarz-gelben Bundesregierung wettert und Özdemirs Mit-Vorsitzende Claudia Roth darf sich bei ihren Anti-Merkel-Attacken ebenfalls im Applaus sonnen.
Aber Kretschmann, der immer von Kamerateams und Fotografen umgeben wird, ist der heimliche Star des Parteitags. Und er steht auch ein bisschen für die Gemengelage in Freiburg: Die neuen Grünen, die bundesweit bei 20 Prozent liegen, wollen solide sein. Man könnte die Devise des Freiburger Parteitags auch so zusammenfassen: Bloß nichts falsch machen.
Keine Überraschungen
Spannend ist es nicht, was die Partei am Fuße des Schwarzwalds präsentiert. Auch nicht überraschend. Stundenlang diskutierte man am Freitagabend über Klimapolitik, und da sind sich sowieso alle einig: Atomausstieg sofort, mehr erneuerbare Energie und Investitionen in umweltfreundliche Technologien. Ähnliches gilt für die Kommunalpolitik: Zwar debattiert man darüber auf einem Bundesparteitag zum ersten Mal an diesem Samstagmorgen - aber auch bei diesem Thema stimmen alle überein: Die Kommunen sollen mehr Geld bekommen, dafür will man die Gewerbesteuer ausweiten.
Ähnlich ist es beim Personal. Zur Wahl stehen die bisherigen Vorsitzenden - und die werden mit überzeugenden Ergebnissen bestätigt: Roth bekommt 79,3 Prozent, Özdemir außerordentlich gute 88,5 Prozent. Auch auf den beiden weiteren Plätzen im Bundesvorstand werden die Amtsinhaber Astrid Rothe-Beinlich und Malte Spitz wieder gewählt, trotz Gegenkandidaten. Bundesgeschäftsführerin Steffi Lemke wird ebenfalls bestätigt. Und zunächst stellen sich für die 13 zu wählenden Sitze im Parteirat, dem politischen Führungsgremium der Grünen, mit dem bisherigen Grüne-Jugend-Chef Max Löffler und Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer zwar zwei neue interessante Kandidaten zur Wahl - aber sie füllen nur eine Lücke: Bremens Umweltsenator Reinhard Loske und der Parteilinke Arvid Bell traten nicht mehr an. Immerhin, kurz vor der Wahl am Samstagabend meldet ein Delegierter aus Bayern seine Spontan-Bewerbung für den Parteirat an.
Dennoch: 13 ernsthafte Kandidaturen für 13 Plätze - eine spannende Wahl sieht anders aus.
Die Grünen im Herbst 2010 sind eine Partei im Höhenflug, die darauf mit aller Vorsicht reagiert. Ihr vormaliges Alphatier Joschka Fischer höhnte im Bundestagswahlkampf 2005 angesichts der schwarz-gelben Umfragen von einem "wunderbar anzuschauenden Soufflé im Ofen" - daraus könne aber schnell die Luft 'raus sein. Bekanntermaßen trat genau das ein, es reichte damals nicht für eine Unions-FDP-Koalition. "Nicht abheben" ist deshalb die Ansage der Parteivorderen an die Delegierten, weil sie sich genau vor diesem Effekt fürchten.
Und dafür steht: Winfried Kretschmann. "Ich bleibe auf dem Teppich, auch wenn der gerade fliegt", ist so ein typischer Kretschmann-Satz. Das sagt der baden-württembergische Grünen-Spitzenkandidat nicht nur, weil es seinem Naturell entspricht. Sondern, weil er ein alter Politik-Fuchs ist - und weiß, dass seine und die Stärke der Ländle-Grünen zu einem Großteil dem Stuttgart-21-Hype geschuldet ist. Die Kretschmann-Truppe war von Beginn an gegen den Bahnhofsneubau und führt inzwischen den massiven Widerstand an, deshalb profitiert sie am meisten von der Stimmung gegen S 21. Aber es sind noch vier Monate bis zur Landtagswahl - da kann beim Thema Bahnhof noch eine Menge passieren.
Grüne wollen für alle da sein
Im Bund, das haben die Berliner Partei-Strategen erkannt, ist es so: Auch hier profitieren die Grünen von der Sympathie für den S-21-Widerstand - noch viel mehr aber vom verheerenden Ansehen der schwarz-gelben Koalition. Sollten Union und FDP zueinander finden, werden das die Grünen zu spüren bekommen. Und auch die Anti-Atom-Stimmung, durch die AKW-Laufzeitenverlängerung und den Castor-Transport beflügelt, dürfte wieder abebben - was ebenfalls die Grünen-Werte nach unten treiben wird. Dazu kommt, dass die politische Konkurrenz sich wie nie zuvor auf die Grünen einschießt.
"Auftrag: Grün" ist auf dem Bühnenhintergrund in Freiburg zu lesen, darunter sind als Scherenschnitte unter anderem ein Mann im Anzug, Familien, ein Gitarrenspieler, eine alte Frau mit Handwagen und ein Graffiti-Sprayer abgebildet. Mit anderen Worten: Die neuen Grünen wollen alle in der Gesellschaft erreichen - und niemanden verschrecken.
Dafür steht die Kandidatur von Renate Künast in Berlin, die dort Aussichten auf das Rote Rathaus von SPD-Amtsinhaber Klaus Wowereit hat. "Eine für alle" lautet ihr Slogan. Und dafür steht der Ministerpräsidenten-Kandidat Kretschmann in Baden-Württemberg.
Staat - Markt - Bürgergesellschaft, dieses Dreieck will er neu ausrichten, erklärt Kretschmann den Delegierten in Freiburg. Er kann gut mit dem Mittelstand, sitzt im Zentralkomitee der deutschen Katholiken und will nach den Erfahrungen mit S 21 die direkte Bürgerbeteiligung stärken. "Die Gräben zwischen Politik und Gesellschaft dürfen nicht tiefer werden", sagt Kretschmann.
Eines ist klar: Experimente wird es mit Kretschmann nicht geben. Diese Botschaft brauchen die Grünen im Moment.