
Aufhebung der Coronamaßnahmen Sind Kinder keine Menschen?


Berliner Erstklässler bei Einschulungsfeier in Pandemiezeiten
Foto: Jörg Carstensen / picture alliance/dpaEs gibt Tage, da erübrigt sich für mich die Tasse Kaffee. Schon die erste Meldung in den Frühnachrichten sorgt für den nötigen Kick – leider nicht durch Erheiterung. So geht es mir an diesem Dienstagmorgen. Nach einem Statement von Außenminister Heiko Maas.
Da im August alle Menschen ein Impfangebot hätten, sagt Maas da, gäbe es rechtlich und politisch keine Rechtfertigung mehr für irgendeine coronabedingte Einschränkung.
Zuerst denke ich: Hat er recht? Hat er die Deltavariante auf dem Schirm? Und was ist mit dem Impfschutz? Der entsteht doch nicht durch das Impfangebot, sondern erst nach der zweiten Impfung. Wie lässt sich der Impfnachweis kontrollieren? Muss man nicht unterscheiden zwischen wirklich eingriffstiefen Einschränkungen wie der der Bewegungsfreiheit und vielleicht etwas lästigen, aber nützlichen wie dem Tragen einer Maske im engen Bus im Berufsverkehr morgens? Und vor allem: Verdienen nicht auch die Nichtgeimpften unsere Solidarität?
Dabei meine ich weniger die Impfverweigernden, die auch trotz des erwiesenermaßen klaren Übergewichts des Impfnutzens – individuell wie gesellschaftlich – gegenüber dem Impfrisiko nicht zum Gemeinschaftsschutz beitragen wollen. Dieser altertümlich »Herdenimmunität« genannte Gemeinschaftsschutz dient ja vor allem denjenigen, die sich nicht impfen lassen können: weil sie zum Beispiel krank sind oder eben weil für sie noch kein Impfstoff zugelassen, geschweige denn entwickelt wurde: Kinder unter 12 Jahren!
Dann der erste Schreck, der Koffein unnötig macht: Halt, wie viele Menschen sind das? Schnell recherchiert: Unter 14 Jahren sind es zehn Millionen, unter 18 Jahren um die 15 Millionen Menschen in Deutschland.
Das gibt es doch nicht! Wie kommt man auf die Idee, alle diese Millionen Menschen nicht zu berücksichtigen? Wieso fällt einem Außen- und vor allem ehemaligen Justizminister nicht ein, dass auch diese 10 bis 15 Millionen Menschen unsere Solidarität benötigen, gerade weil sie noch kein Impfangebot erhalten? Diese Rückfrage richtet sich übrigens auch an den Vorsitzenden der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, der schon einen Tag zuvor in dieses Horn der Undifferenziertheit populistisch hineinposaunt hatte.
Dann kommt der eigentliche Schreck. Hatte Heiko Maas wirklich gesagt: »Allen Menschen kann ein Impfangebot gemacht werden«, wo doch 10 bis 15 Millionen keines bekommen? Allen Menschen? Nachschauen: Die Formulierung war doch sicher anders, und die Nachrichten haben das nur flugs um der sprachlichen Geschmeidigkeit willen geändert. Sicher hat er gesagt: »allen Erwachsenen«, »allen, für die medizinisch nach derzeitigem Stand eine Impfung vorgehalten wird und empfohlen ist«. Aber bestimmt, sage ich mir beruhigend, hat er nicht gesagt: »allen Menschen«. Das kann nicht sein.
Nach dem Proseminar-Grundsatz der formalen Logik »Alle Menschen sind sterblich, Platon ist ein Mensch, also: Platon ist sterblich« hieße das ja: Kinder sind keine Menschen – und wer kein Mensch ist, der hat auch keine Menschenrechte. Nein, nein, eine solche sprachliche Unschärfe, ja Entgleisung traue ich dem Minister, der aus guten Gründen durch die Welt jettet und (fast) überall, wo er Menschenrechtsprobleme sieht, diese anspricht und der gern seine Solidarität mit sogenannten Minderheiten unter Beweis stellt, indem er mal eine Christopher-Street-Day-Parade eröffnet, nicht zu.
Doch die Recherche ergibt traurige Gewissheit – wörtliches Zitat: »Wenn alle Menschen ein Impfangebot haben«. Jetzt fühle ich einen mentalen vierfachen Espresso, ohne den echten schon gekocht zu haben. Ich versuche es mit Selbstkritik: Sei nicht so unbarmherzig. Jede und jeder kann mal unpräzise in der Wortwahl sein. Doch im Unterschied zu Radio- und Fernsehinterviews sind Interviews in Printmedien »dankbar«. Zweifelsohne kann ein Minister mit einem der größten Häuser oder seine Entourage den Entwurf des Interviews nochmals durchlesen. Niemandem scheint dieser unglaubliche Lapsus aufgefallen zu sein. Das macht das Ganze keineswegs besser. Im Gegenteil.
Zudem: Wenn ich den Eindruck gehabt hätte, die Bundesregierung hätte außer den auswendig gelernten und ja auch so richtigen Phrasen wie »Kinder zuerst!«, »Schulöffnungen haben oberste Priorität!« oder »Kinder sind unsere Zukunft!« (nur nebenbei sei hier einmal erwähnt, dass Kinder wie alle anderen Menschen auch ein Recht auf Gegenwart haben und nicht nur als Renten zahlende Zukunft verzweckt werden sollten) Herzblut und Kraft in die Umsetzung derselbigen gesteckt, wäre ich großzügiger in meiner Kritik.
Aber die über ein Jahr dauernde Pandemie hat uns leider eines Besseren, nein, eines Schlechteren belehrt: Die Schulen waren früh dran, wenn es um Schließungen ging. Und als in der ersten Welle Baumarktbesucher jubeln durften (»Es gibt immer was zu tun!«), blieben die Schulen zu. In der zweiten Welle wurden Kinder als »Virenschleudern« gebrandmarkt. Und in der dritten fand die Bundesregierung nur müden Protest und keine echte Gegenwehr, als die Uefa quasi im rechtsfreien Raum ihre Europameisterschaft nun wirklich als Mega-Ischgl ausrichtet, obwohl gleichzeitig jedes Schulfest abgesagt bleibt. Die Maskenauflagen wurden auch in München nicht streng durchgesetzt, während Jens Spahn kurz zuvor in einem unbedachten Moment, der eben viel über seine Prioritäten und Einstellungen verriet, wie selbstverständlich Wechselunterricht nach den Sommerferien prophezeite .
Und das ist eben auch das politisch so abgründig entlarvende an der Äußerung von Heiko Maas und eben zuvor auch von Andreas Gassen, der unbedarft mit Zustimmung vieler Kommentatoren bedacht wurde: Ohne Wimpernzucken werden Kinder aus dem Kreis der Menschen herausdefiniert.
Wenn wir – was ich begrüße und immer wieder selbst tue – eine hohe Sensibilität für sogenannte Minderheiten, für vulnerable Gruppen, für die Schwächsten aufbringen, wenn viele es begriffen haben – und Heiko Maas zählt dazu –, dass mit der Erwähnung von Männern in Texten Frauen nicht automatisch mitgemeint sind, dann darf es einem nicht passieren, von »allen Menschen« zu reden und nicht an 10 bis 16 Millionen Kinder und Jugendliche zu denken.
Muss man es denn wirklich explizit sagen? Kinder sind Menschen! Punkt! Die Kinder so zu übergehen: Was ist das eigentlich? Schusselig? Naiv? Dreist? Ignorant? Empörend? Skandalös? Es ist in jedem Fall traurig und nicht nur, aber auch und gerade für Eltern: deprimierend.
Da hat man – jedenfalls in Bayern – ein halbes Jahr mit der für alle problematischen Rollendiffusion zwischen Elternaufgabe, Lehrer:innenrolle und in der Zeit der großen Kontaktbeschränkung auch Peer-Ersatz mehr oder minder gelungen hinter sich gebracht; da muss man schließlich nicht mal mehr bis drei zählen, um zu realisieren, dass für das neue Schuljahr keine effizienten Schutzkonzepte gegen die vierte Welle vorliegen, die eben – wie jedes Kind inzwischen weiß – vor allem die Nichtgeimpften treffen wird, sprich: vor allem die Kinder treffen wird.
Und dann liest man vom offiziellen außenpolitischen Repräsentanten Deutschlands in der Welt: Kinder zählen nicht unter »Menschen«. Wirklich: vielen Dank für weniger als nichts!
Apropos Schutzkonzepte und weniger als nichts: Wie zu erwarten, ach, wie zu befürchten, ermahnt die Bundeskanzlerin die Länder, für Luftfilter zu sorgen. Auch ein solches Verhalten in den politischen Verantwortungseliten war überraschungsfrei vorhersagbar: Monatelang hätte man in der ominösen Ministerpräsident:innenrunde – wenn man ernsthaft in den Gestaltungsraum jenseits der Phrasen hätte kommen wollen – gemeinsam die Priorität für Kinder realisieren können. Das wäre kein Hexenwerk gewesen!
Jetzt, wo sich der Bundestag bereits in die Sommerpause verabschiedet hat, die meisten Länderparlamente ebenso, die Administration auf Sparmodus umstellt, kommen solche halbherzigen Vorschläge »Luftfilter jetzt!« – und immer nach dem Motto: Die anderen sollen es machen.
Ist doch klar, wie die Länder reagieren werden: »Jetzt bekommen wir das nicht mehr hin! Wir haben auf ein gemeinsames Signal aus Berlin gewartet!« Zudem kann man ja noch mit dem Finger auf Kommunen, Schulträger oder Schulen zeigen – und so geht das Spiel »Reise nach Jerusalem« weiter, weil klar ist, für wen beim Stopp der Musik kein Stuhl übrig ist: für die Kinder.
Festzuhalten ist mit Stand 6. Juli 2021: Es liegt auch im 17. (!) Monat der Pandemie kein gemeinsam als dringend notwendig und deshalb auch gemeinsam von Bund und Ländern erarbeitetes und verantwortetes Konzept vor, wie Kindern sicher gewährleistet werden kann, dass nach 2020 nicht auch 2021 ein »Katastrophenschuljahr« (Karl Lauterbach) beginnt. Von der Umsetzung ganz zu schweigen.
Stattdessen untergraben Gassen, Maas und andere die Solidaritätsressourcen im Land, die ich auch für Kinder und Jugendliche sehr wohl sehe. Natürlich sind (fast) alle in Verwandtschafts- oder Freundesverhältnissen zur jungen Generation und daher auch willig, sie zu unterstützen. Die grundsätzliche Solidaritätsbereitschaft in diesem Lande ist außerordentlich und lobenswert. Umso unverständlicher und nicht mehr akzeptabel ist, wie wenig dieser starke Solidaritätsimpuls in der Politik umgesetzt wird.
Es kann ja nicht nur daran liegen, dass – nach meiner Kenntnis – in der Bundesregierung außer Hubertus Heil niemand mehr Kinder im besonders betreuungsintensiven Grundschulalter hat. In den Landesregierungen wird die Quote wohl besser sein. Aber die Bundesregierung, die ja auf nationaler Ebene die Koordinationsverantwortung der Coronabekämpfung trägt, versagt schon auf breiter Linie: ob Merkel, Braun, Spahn oder jetzt Maas.
Noch am Wochenende hat der Journalist Hilmar Klute an ein verheerendes Zitat der Bundeskanzlerin aus dem Winter erinnert: »Ich halte es auch für richtig, die Schulen – etwa durch Verlängerung der Ferien – zu schließen bis zum 10. Januar oder aber Digitalunterricht zu machen oder was auch immer. Das ist egal.« »Egal« oder »Kinder fallen nicht in die Gruppe der Menschen« – diese Äußerungen sind keine unbedachten Entgleisungen, sie spiegeln leider das Niveau, dem Kinder und Familien vonseiten der Bundesregierung zu oft begegnen. Mehr »Respekt!« und (nicht nur) #wegenmorgen, möchte man mit den Wahlkampfmottos der Regierungsparteien dagegenhalten.
Ach ja, der Wahlkampf: Wenn man die Kinder schon nicht um ihrer selbst willen ins Zentrum der politischen Agenda stellt, hätte man ja auf die Idee kommen können, aus purem Eigennutz – ist ja immerhin Bundestagswahl Ende September – umsetzbare Konzepte zum Schutz der Kinder in der nun anhebenden vierten Welle voranzubringen. Ende September wird schon in allen Bundesländern wochenlang der Schulunterricht losgegangen sein. Dann kommt es zum Schwur: Wer dann »nicht nur mit Wort und Zunge, sondern in Tat und Wahrheit« – wie es so treffend im Neuen Testament heißt – Kinder nicht unter die Menschen zählt, wer Maßnahmenpakete unter die Kategorie »egal« subsumiert, wird eine Quittung erhalten.
Was auf Dauer noch viel beunruhigender ist: Eine solche Politik unterminiert die Demokratieleidenschaft genau in dem Milieu der Mitte, das eben nicht auf eine Gesellschaft der Singularitäten setzt, sondern die Gesellschaft des Zusammenhalts erst herstellt: in den Familien und bei den Eltern, die liebe- und mühevoll und derzeit von großen Teilen der Politik so alleingelassen ihre Kinder ins Leben begleiten. Wen soll man noch wählen?