
Der Fall Amthor Was geht - und was man trotzdem nicht tut


Philipp Amthor (CDU) nach einer Sitzung des CDU-Kreisverbandes Ludwiglust-Parchim, 17. Juni 2020
Foto:Jens Büttner / DPA
Philipp Amthor, so scheint es auf den ersten Blick, hat seine Affäre mehr oder weniger unbeschadet überstanden. Die Bundestagsverwaltung ist bei ihrem Prüfverfahren hinsichtlich der Vorwürfe gegen den Abgeordneten zum Ergebnis gekommen, dass kein Verstoß gegen die Verhaltensregeln des Bundestags vorliege. Auch die Staatsanwaltschaft hat ihr Prüfverfahren in Bezug auf den Vorwurf der Bestechung eingestellt und sieht keinen Anfangsverdacht für einen Straftatbestand, der weitere Ermittlungen notwendig gemacht hätte.
Amthor hatte seinen politischen Einfluss ausgeübt, um für eine ausländische Firma, Augustus Intelligence, den Türöffner beim Wirtschaftsministerium zu spielen. Dafür erhielt er von der Firma einen Direktorenposten und vor allem ein Paket mit Aktienoptionen, weitere Vergünstigungen dürften Flüge und Aufenthalte in teuren Hotels gewesen sein. Für den Straftatbestand hätte es nach Ansicht der Staatsanwaltschaft eines "ungerechtfertigten Vorteils" bedurft. Der liege aber nicht vor, genauso wenig wie eine "qualifizierte Unrechtsvereinbarung", da Amthors Engagement für Augustus Intelligence außerhalb der durch das Mandat begründeten Zuständigkeiten erfolgt sei. Aus Sicht der Bundestagsverwaltung hätte Amthors Nichtangabe seiner Nebentätigkeit problematisch werden können. Da nach den geltenden Regeln Aktienoptionen jedoch nicht als geldwerte Zuwendungen gemeldet werden müssen, war er dort in formaler Hinsicht ebenfalls aus dem Schneider.
Die juristische Aufarbeitung des Falls kann damit als abgeschlossen gelten. Und es ist zu vermuten, dass aus Sicht derjenigen, die den Fall auf seine juristische Dimension reduziert haben, wie der CDU-Fraktionsvorsitzende Brinkhaus oder der Bundestagspräsident Schäuble, die Sache damit als erledigt zu gelten hat. Ein solches Vorgehen folgt der Strategie, die Hürden einer Rehabilitation für Amthor besonders niedrig zu setzen, indem man die Hürden für eine Verurteilung seines Handelns denkbar hoch setzt. Und natürlich müssen diese Hürden beim Strafgesetz sehr hoch sein, da es nur als ultima ratio eingesetzt werden soll, nur wenn Verstöße vorliegen, die so schwerwiegend sind, dass wir ihnen mit den härtesten uns zur Verfügung stehenden Mitteln begegnen müssen. Nach §108e des Strafgesetzbuchs kann Bestechlichkeit eines Mandatsträgers immerhin mit einer Gefängnisstrafe von bis zu fünf Jahren bestraft werden.
Recht versus Moral
Aber wir verfügen in unserer Gesellschaft, in jeder Gesellschaft, neben dem Gesetz noch über ein anderes System, Normverstöße zu ahnden: das der Moral. Sprechen wir im Zusammenhang mit dem Gesetz von Strafe und strafwürdigem Verhalten, ist im Zusammenhang der Moral der Begriff der Verantwortung zentral. Es gibt also zwei relevante Betrachtungsmöglichkeiten des Falls, die sehr wohl zu einer unterschiedlichen Würdigung kommen können.
Keiner kann ernsthaft wollen, dass Amthor für sein Verhalten mit der vollen Härte des Strafgesetzes verfolgt werden und womöglich im Gefängnis landen sollte. Aber umgekehrt kann auch keiner ernsthaft der Ansicht sein, dass jemand, nur weil er nichts getan hat, was ihn ins Gefängnis bringen sollte, allein schon deshalb korrekt gehandelt habe. Der alte konservative Talkshow-Recke Wolfgang Bosbach (CDU) hat das mit seiner Bemerkung gut auf den Punkt gebracht, es gebe nicht nur die Kategorien "erlaubt" und "verboten", sondern eben auch die Kategorie "Das tut man nicht." Der Journalist Robert Roßmann schrieb in der "SZ", es sei klar, dass Amthor Dinge getan habe, "die Abgeordnete grundsätzlich nicht machen sollten".
Die moralische Dimension des Vorgangs ist allerdings aus Sicht der Verteidiger Amthors offensichtlich völlig irrelevant. Nach einer Befragung von Philipp Amthor durch den Landesvorstand der CDU von Mecklenburg-Vorpommern äußerte etwa deren Generalsekretär Wolfang Waldmüller, dieser habe alle rechtlichen Zweifel ausräumen können und seine Fehler seien "rein moralisch". Eine moralische Bankrotterklärung in eigener Sache hätte nicht eleganter formuliert werden können. Auch Amthor weicht dem Aspekt des moralischen Versagens aus. Nach dem Beschluss der Bundestagsverwaltung räumte er seinen "Fehler" ein, nicht erkannt zu haben, dass nicht alles, was rechtlich zulässig, auch "politisch klug" sei. Amthor gab also keineswegs zu, etwas an sich (moralisch) Falsches getan zu haben, sondern lediglich den taktischen, politischen Fehler begangen zu haben, nicht vorausgesehen zu haben, dass er damit angreifbar sein könnte. Einsicht und Reue sind bei Amthor demnach nicht vorhanden, weil es aus seiner Sicht nichts an seinen Handlungen zu bereuen gibt, sondern lediglich an den Folgen, die ihm durch Reaktionen von dritter Seite entstanden sind.
Die entscheidende Frage lautet nun: Soll es uns tatsächlich genügen, dass Amthor nicht explizit gegen geltendes Recht verstoßen hat? Oder sollten wir sein Verhalten auch nach moralischen Maßstäben beurteilen? Sollten wir also statt der Frage "Verdient er Strafe?" nicht besser die Frage "Ist er seiner Verantwortung gerecht geworden?" stellen, weil die moralische Dimension die eigentlich relevante ist?
Wir sind es nicht gewohnt, moralische Debatten zu führen. Wer moralische Argumente vorbringt, erntet häufig eher pikierte Reaktionen. Moral scheint aus der Mode gekommen zu sein.
Eine gesunde Skepsis gegenüber "moralischen" Argumenten ist tatsächlich angebracht, denn die Fälle des Missbrauchs sind mannigfaltig, insbesondere wenn es um die Instrumentalisierung privaten sexuellen Verhaltens zur Diskreditierung von Politikern geht. Wir dürfen aufgrund dieser berechtigten Skepsis allerdings auch nicht der zynischen Propaganda Glauben schenken, Moral sei lediglich – wie Nietzsche sagt – die "List der Schwachen", also die letzte Zuflucht von lebensuntüchtigen Weicheiern und naiven Weltverbesserern und Gutmenschen. Sogenannte "Neoliberale" bedienen sich mindestens ansatzweise gerne eines solchen Argumentationsstrangs, munter an ihrer intellektuellen Leichenschändung Adam Smiths weiterwerkelnd, der sich selbst als Moralphilosoph sah und seine "Wealth of Nations" lediglich als eine Art von ausufernder Fußnote zu seinem Hauptwerk "Theory of moral sentiments" betrachtete.
Genau genommen ist es aber eben diese Sichtweise, wir könnten auf moralische Debatten, Prozesse der moralischen Selbstvergewisserung und damit verbundene Positionsbestimmungen verzichten, die naiv ist. Keine Gesellschaft könnte auch nur ansatzweise ohne die allgemeine Anerkennung von Normen auskommen, die der Philosoph Jon Elster daher als "Zement der Gesellschaft" bezeichnet hat. Ohne die Einhaltung moralischer Grundsätze lässt sich keine Pommesbude korrekt führen, schon gar kein Fleischereigroßbetrieb - wie wir in letzter Zeit anschaulich erleben konnten -, und mit Sicherheit kein komplexes Staatswesen. Moral ist nicht die altjüngferliche, entfernte Verwandte des Rechts, sondern seine gleichberechtigte Schwester und oft auch seine Patin.
Hätten wir nicht moralische Konzepte wie Menschenrechte und Menschenwürde, die wir als mächtige Instrumente zur Kalibrierung des Rechts einsetzen können, wäre Homosexualität immer noch eine Straftat und Vergewaltigung in der Ehe weiterhin keine. Keine wichtige politische Frage, sei es zu Asyl, Immigration, dem Klimawandel, Ungleichheit oder der Einschränkung von Freiheitsrechten zum Schutz der Schwachen wie in der Coronakrise, lässt sich ohne Rückgriff auf moralische Positionen und Konzepte auch nur diskutieren, geschweige denn entscheiden.
Die besondere Verantwortung von Abgeordneten
Dass wir vernünftigerweise tatsächlich moralische Forderungen und gerade solche an Mitglieder der Legislative stellen können, ja müssen, liegt in ihrer spezifischen Rolle in der Gemeinschaft begründet. Da sie diejenigen sind, deren Aufgabe darin besteht, die Gesetze und Regeln des Zusammenlebens zu formulieren, ist es offensichtlich, dass es eine bloße Selbstverständlichkeit sein muss, dass sie als erste diesen Gesetzen und Regeln Folge leisten. Für die Beurteilung ihres Handelns kann die Gesetzeskonformität desselben daher nicht hinreichend sein, sondern wir benötigen dafür Maßstäbe jenseits der von den Abgeordneten geschaffenen Regeln. Es gibt keine höhere Verantwortung, die wir Personen übertragen können, als die des Gesetzgebers. Entsprechend hoch müssen die Anforderungen sein.
Für die Übernahme dieser zentralen Rolle ist es unerlässlich, dass die politische Tätigkeit niemals so ausgeübt werden darf, dass sie für den Politiker persönliche Vorteile bringt. Denn wenn das Gemeinwohl und der Eigennutz gemeinsam auftreten, entsteht eine systematische Verzerrung, die die Glaubwürdigkeit des Signals des Urteils des Politikers untergräbt, dass er hier nach bestem Wissen und Gewissen handelt. Doch auf dieses Signal sind wir angewiesen, um seine politische Tätigkeit zu bewerten. Denn gerade weil bei konkreten politischen Entscheidungen zwangsläufig bestimmten Gruppen Nachteile entstehen, muss gewährleistet sein, dass die Entscheidung unter der bestmöglichen Abwägung des Für und Wider zustande gekommen ist und der Nachteil für diese Gruppen mit guten Gründen gerechtfertigt werden kann - und nicht womöglich schlichtweg die Konsequenz aus einem Vorteil für den Entscheider ist.
In einem solchen Fall muss der Politiker, wie bei sonstigen Befangenheitsregeln in anderen Kontexten auch, entweder selbst dafür Vorsorge treffen, dass ihm kein Vorteil entsteht, oder eben sein politisches Engagement für diese Sache unterlassen. Die grundsätzliche Regel ist also klar und eindeutig: Niemand darf seine politische Macht dazu missbrauchen, Einfluss auf Entscheidungen zu nehmen, von denen er selbst einen Vorteil hätte. Und ebenso klar ist, dass auch ein Vorteil, der ihm im Nachhinein entsteht und der von ihm womöglich tatsächlich ex ante nicht zu erahnen oder zu erwarten war, auf keinen Fall angenommen werden darf, weil es uns in der Regel nicht möglich ist zu erkennen, was vorab zu erahnen oder zu erwarten der nachmalige Vorteilsempfänger in der Lage war.
Dass Amthor einen geldwerten Vorteil von Augustus Intelligence erhalten hat, steht außer Zweifel. Die genaue Höhe ist in der Tat nicht feststellbar, weil es sich um Aktienoptionen handelte und diese eine Art von Wette auf die Zukunft darstellen. Deshalb sind sie aber sicherlich nicht wertlos, denn das Recht, solche Wetten auf die Zukunft abschließen zu dürfen, ist in der Regel mit einem Preis versehen. Die Vergabe von Aktienoptionen stellt bei Start-Up-Unternehmen typischerweise eine Form der Entlohnung dar, durch die ein niedrigeres als ansonsten übliches Gehalt kompensiert wird. Auch George Lucas hat eine Wette auf die Zukunft abgeschlossen, als er beim ersten Teil der Star-Wars-Filme auf einen Teil seines Regiegehalts verzichtete, um dafür die Lizenzrechte zu erhalten. Eine Wette auf die Zukunft, die ein (Film)Imperium wert war.
Dass nun wiederum die Manager von Augustus Intelligence davon ausgingen, dass sie durch die Tätigkeit von Amthor ebenfalls einen geldwerten Vorteil hatten, zeigt sich daran, dass sie ihm diese Aktienoptionen gegeben haben, was aus deren Sicht eine Art erfolgsabhängige Belohnung dargestellt haben dürfte. Da sie ja mit ihrem Unternehmen einen wirtschaftlichen Erfolg erzielen wollen, kann für sie der Wert dieser Optionen logischerweise nicht null gewesen sein. Da Augustus Intelligence aber keine gemeinnützige Stiftung ist, deren Aufgabe in der Förderung vielversprechender Jungpolitiker aus der ostdeutschen Provinz besteht, muss die Entlohnung Amthors für sie eine Investition gewesen sein, deren Kosten niedriger lagen als der von ihnen für seine Handlungen erwartete Gewinn bzw. der Wert des erwarteten Wahrscheinlichkeitszuwachses, einen Gewinn zu erzielen.
Solche Zuwendungen erzeugen naturgemäß Verpflichtungsgefühle auf der Empfängerseite, selbst wenn diese nicht aktiv eingefordert worden sind. Dieser Zwang zur Reziprozität ist psychologisch nahezu unvermeidbar, wie jeder von uns weiß, der jemals ein überraschendes und unwillkommenes Geschenk von Personen erhalten hat, denen man nicht nahe steht und nicht nahe stehen will. Die Gegenleistung muss auch immer angemessen sein, wie alle Eltern wissen, die schon einmal über die richtige Höhe des Geschenks für Kindergeburtstage gebrütet haben.
In Geschäftsbeziehungen kann man der englischen Redewendung folgend erst recht getrost von der Annahme ausgehen "There ain’t no no such thing as a free lunch", was man angesichts der bekannten Begleitumstände der Treffen im Fall Amthors geradezu wörtlich nehmen darf. Im noch "harmlosesten" Fall könnte man annehmen, dass es für die Investoren von Augustus Intelligence nicht um das konkret vorliegende Geschäft ging, sondern dass es sich im Sinne der "Pflege der politischen Landschaft" um die Generierung eines eher diffusen Optionsguts handelte, das später bei Bedarf in Form der Realisierung des geschaffenen Verpflichtungsgefühls aktiviert werden könnte. So naiv, diese Zusammenhänge nicht zu erkennen, kann kein vernünftiger Mensch sein, ein Politiker darf es nicht sein. Philipp Amthor war in dieser Hinsicht den Anforderungen seines Amts nicht gewachsen.