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Abwehrreflex der Parteien Hilfe, die Piraten kommen

Piraten? Nicht mit uns! Der Erfolg der Polit-Neulinge verunsichert die etablierten Parteien - reflexhaft schalten sie auf Abwehr. Dabei ist längst nicht ausgemacht, ob sich die Piraten dauerhaft in den Parlamenten verankern können.

Berlin - Nein, eine klare Linie ist bei den etablierten Parteien nicht gerade erkennbar im Umgang mit den Piraten. Da sagt SPD-Generalsekretärin Andrea Nahles den Polit-Newcomern den Kampf an, wenig später attestiert ihr Parteichef ihnen "eine gute Wirkung auf Nichtwähler". Da greift FDP-Generalsekretär Patrick Döring die Piraten frontal an, und sein Parteivorsitzender sagt, man könne von den Exoten "durchaus was lernen". Man möchte fragen: Ja, was denn nun?

Der Erfolg der Piraten im Saarland hat die etablierten Parteien aufgeschreckt. Verunsichert fragen sie sich, wie sie auf das Phänomen reagieren können. Bei ihrer Gründung 2006 wurden die Außenseiter belächelt, nach dem Wahlerfolg in Berlin im vergangenen Jahr auf eine Ausnahmeerscheinung reduziert. Jetzt, nach dem nächsten Wahlsieg und vor zwei weiteren Landtagswahlen, ringt die Konkurrenz um eine Gegenstrategie. Nur wie die aussehen kann, ist unklar.

Fast alle Parteien bringt der wachsende Erfolg der Piraten in die Bredouille. Sicher, es ist nicht die erste Exoten-Partei, die versucht, sich neu im System zu etablieren. Programmatisch stecken die Piraten in den Kinderschuhen, und im politischen Spektrum sind sie noch nicht recht verortbar.

Aber genau das ist ihr Vorteil: Sie scheinen zum Auffangbecken für all jene zu werden, die ihre zum Teil diffuse Unzufriedenheit mit dem politischen Establishment und seinen Ritualen schon lange einmal artikulieren wollten. Damit stellen sie für CDU, SPD, Grüne, FDP und Linke eine Gefahr dar. Mit einer möglichen sechsten parlamentarischen Kraft, so die Sorge bei der Konkurrenz, würden Mehrheiten immer unberechenbarer. Im Land, und erst recht im Bund.

Forsa-Chef: Piraten-Wählerschaft ein "Phänomen"

Die etablierten Parteien müssen sich etwas einfallen lassen - denn die Piraten wildern in allen Lagern:

  • Im Saarland wurden die Polit-Neulinge zu einer kleinen Sammelbewegung, holten laut einer ZDF-Umfrage jeweils 15 Prozent ihrer Stimmen bei früheren Wählern von CDU, SPD und Linkspartei, bei den Grünen sechs Prozent.
  • Auch viele Nichtwähler konnten die Piraten mobilisieren: Mehr als 20 Prozent ihrer Wähler gewannen sie in jener Gruppe, die vorher zu Hause geblieben war. Sie punkteten bei Angestellten, Arbeitern und Selbstständigen gleichermaßen, gewannen Wähler mit Abitur ebenso wie mit Mittlerer Reife. Nur bei Beamten und Bürgern mit Hauptschulabschluss schnitten die Piraten vergleichsweise schwach ab.

"Das ist ein Phänomen", sagt Forsa-Chef Manfred Güllner. "Während die Grünen in ihrer Anfangszeit nur ein sehr schmales Segment des deutschen Bildungsbürgertums aktivieren konnten, sind die Piraten in allen Schichten zu finden. Es ist falsch, ihre Wählerschaft nur auf die Internet-Nerds zu reduzieren. Sie ist sehr heterogen."

Schnell noch einen Twitter-Account zulegen

Auf den Aufstieg der Piraten finden die etablierten Parteien noch keine schlüssige Antwort. Mit einem Mix aus Aggressivität und Schmeichelei sowie einer Portion Twitter und Facebook versuchen sie, die Wähler der Exotenpartei einzufangen. Souverän wirkt das nicht. CDU-Fraktionsgeschäftsführer Peter Altmaier twittert, was das Zeug hält, während Bundestagspräsident Norbert Lammert im SPIEGEL über den "verbalen Überbietungswettbewerb im Netzdiskurs" philosophiert. Grünen-Chefin Claudia Roth ruft dazu auf, "hinter die Fassade" der Newcomer zu schauen, während Bundesgeschäftsführerin Steffi Lemke eher auf Ausgleich bedacht ist: "Mir ist jede Stimme für die Piraten lieber als eine für CDU, CSU und FDP", sagte sie in der "Berliner Runde" am Sonntagabend. Und der neuste Ansatz von SPD-Kollegin Nahles: Sie könne sich vorstellen, dass ihre Partei "ganz locker" Gespräche und Kontakte mit den Piraten aufnehme.

Was ist der richtige Kurs? Forsa-Chef Güllner rät den anderen Parteien, ihren Stil zu ändern, wenn sie die Piraten einfangen wollen. "Es ist sinnlos, nur simpel zu sagen: Wir lernen jetzt auch das Internet", meint er. "Es ist auch der Unmut über den abgehobenen Politikstil, der den Piraten Zulauf verschafft."

Tatsächlich bieten auch die Piraten allerlei Angriffsfläche. Zwar punkten sie mit authentischem Spitzenpersonal, charmanten Wahlkampfaktionen, erfrischenden Slogans und einer Low-Budget-Guerilla-Taktik, die gerade auf Jung- und Erstwähler neu und anziehend wirkt. Doch was außerhalb der Parlamente als gut vernetzte Bewegung überzeugt, kann im realpolitischen Alltag schnell zerbröseln. Der Anspruch der maximalen Transparenz etwa ist auch innerparteilich umstritten.

Grundsätzlich stehen die Piraten vor der Frage, ob sie die Versprechen an ihre Wähler - mehr und flexible Bürgerbeteiligung, den gläsernen Abgeordneten, eine offenere Politik - auch dann einhalten können, wenn sie in den Parlamenten inhaltlich liefern müssen.

Neue Lage in NRW

Klar ist: Die kommenden Wahlen werden kein Selbstläufer für die Piraten. Im Saarland haben sie offenbar stark davon profitiert, dass das schwarz-rote Regierungsbündnis schon vor dem Urnengang ausgemachte Sache war. Mehr als 85 Prozent ihrer Wähler meinten, man könne jetzt, "da die Regierung praktisch schon feststeht, auch mal eine andere Partei wählen, die sonst nicht in Frage kommt", ermittelte das ZDF. Heißt im Klartext: Wenn für sie zu stimmen keinen Unterschied macht, fahren die Piraten ein starkes Ergebnis ein.

In Schleswig-Holstein, mehr aber noch in Nordrhein-Westfalen sind die Voraussetzungen völlig anders. Im bevölkerungsreichsten Bundesland wird es einen klassischen Richtungswahlkampf geben, Rot-Grün kämpft gegen den Rest und hat eine klare Machtperspektive. Das dürfte die eigenen Anhänger stärker mobilisieren - und die Piraten vor Probleme stellen.

Am Ende sei aber "der Praxistest", wie es Meinungsforscher Güllner nennt, für die Piraten die größte Gefahr. "Wenn die Piraten in den Parlamenten nur Quatsch machen und sich in Streitigkeiten ergehen, können sie sich auch schnell wieder ins politische Abseits manövrieren."

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