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Saarland, Schleswig-Holstein, NRW: Piraten im Wahltest

Foto: Fredrik Von Erichsen/ dpa

Piraten-Parteitag NRW Schwemme der Willigen

Die erste Zitterpartie der NRW-Piraten steht bereits 50 Tage vor der Wahl an: Am Wochenende wollen sie ihre Landesliste aufstellen. Doch allein auf den Spitzenplatz drängen Dutzende Kandidaten - die Macht der Masse wird zum Störfaktor.

Düsseldorf - Im Café Oleander in Ratingen bei Düsseldorf, einem verrumpelt-gemütlichen Abituriententreff, suchen Piraten nach Orientierung. Sie trinken Krombacher und Orangina aus Flaschen, gehen zum Rauchen vor die Tür. Und beschäftigen sich mit den praktischen Fragen des politischen Lebens.

"Was für Qualifikationen brauche ich eigentlich, um für den Landtag zu kandidieren?", fragt eine Frau mit dunklen Haaren und sehr roten Lippen. "Gar keine", grölen drei Männer im Chor.

"Nein. Im Ernst", setzt die Frau nach. "Man muss doch auch Dinge sagen können, die piratig sind. Wo gibt es denn dafür die Schulung?" Es geht nun ein bisschen hin und her, von Rhetorikkursen ist die Rede, die noch angeboten werden könnten, davon, dass sie vielleicht einmal das Programm der Partei lesen möge.

"Ja, und dann?", fragte die Piratin. "Dann stehst du auf einem Zettel und wirst nicht gewählt", antwortet der Männerchor zögerlich. "Wahrscheinlich."

Dutzende drängen auf den Spitzenplatz

So wie den Ratinger Piraten geht es vielen Neumitgliedern der Partei in Nordrhein-Westfalen. Über Wahlkampferfahrung verfügen die wenigsten, und auch über ein Landtagsmandat dürfte bis vor kurzem kaum jemand nachgedacht haben. Mit dem Ende der rot-grünen Minderheitsregierung von Hannelore Kraft (SPD) scheint der Einzug der Piraten in ein weiteres Landesparlament nun plötzlich realistisch. Umfragen sehen die Politikneulinge bei Werten zwischen fünf und sieben Prozent.

Die Chance der Neuwahl hat bei vielen Piraten die Leidenschaft fürs Mandat geweckt. Der NRW-Landesverband kann sich vor Anwärtern kaum retten, die sich die Aufgaben eines Landtagsabgeordneten zutrauen. Allein für den ersten Listenplatz haben sich neben Landeschef Michele Marsching mehr als 30 Bewerber ins Rennen gebracht. Insgesamt 160 Interessierte, Stand Freitagnachmittag, tummeln sich im Kandidatenpool.

Am Samstag und Sonntag wollen die NRW-Piraten in Münster daraus eine Landesliste basteln. Insgesamt 16 Stunden sind für den Nominierungsparteitag angesetzt. Dass der Zeitplan hinhaut, ist unwahrscheinlich. Auf 40 Namen soll die Liste zusammengedampft werden, ein Hauen und Stechen um die Plätze ist programmiert. Für sich werben werden die Anwärter im "Kandidatengrillen", einer berüchtigten Frage-Antwort-Schlacht auf offener Bühne.

Zeitweise schwoll die Liste in den vergangenen Tagen auf 200 Kandidaten an. Einige zogen sich nach hitzigen, in Mailinglisten ausgetragene Debatten über Trittbrettfahrer und Möchtegern-Karrieristen, wieder zurück. "Es ist schwer, den Überblick zu behalten", räumt der Sprecher der NRW-Piraten, Achim Müller, ein.

Die Kandidatenriege zieht sich quer durch alle Berufsgruppen, viele hat es laut Kurzprofil von anderen Parteien zu den Piraten gezogen. Auf der Liste stehen einige Piraten, die schon vom Landtagswahlkampf 2010 Erfahrung mitbringen, aber auch viele Neumitglieder. Bei einigen muss man sich fragen, wie ernst sie es mit dem politischen Mandat meinen.

"Ich möchte Erfahrungen sammeln", schreibt etwa ein 19-jähriger Schüler. "Mir geht es nicht einmal darum, einen guten Listenplatz zu bekommen. Andere Menschen haben es eher verdient, im Landtag zu sitzen." Ein anderer kündigt seine Kandidatur per Rundmail an, lässt sich dann aber entschuldigen. Beim entscheidenden Parteitag habe er leider andere Termine.

Macht der vernetzten Vielen

Was ihnen an Erfahrung fehlt, können die NRW-Piraten an Organisationstalent wieder wettmachen. Anders als bei anderen Parteien sind die Abläufe der Piraten im Wahlkampf wenig automatisiert - dafür aber teilweise erstaunlich effizient. Die Macht der vernetzten Vielen ist der größte Trumpf der Piraten. Vieles wird über virtuelle Sprachkonferenzen oder Mailinglisten geregelt, Plakat-Slogans werden via Online-Abstimmung ausgewählt, Bettenbörsen für Wahlhelfer von auswärts gegründet.

Doch das Problem der Kandidaten-Schwemme zeigt auch: Die Macht der Vielen kann zum größten Hemmnis werden. Wenn etwa der Parteitag zum endlosen skurrilen Schaulaufen der Kandidaten auszuufern droht. Am Wochenende bekommen die Piraten, auch wegen der Saarland-Wahl am Sonntag, viel Aufmerksamkeit. "Jetzt liegt es an uns, der Öffentlichkeit zu zeigen, dass man es anders machen kann als die etablierten Parteien", meint Müller. Ohne Delegierte, ohne Vorstand, der einen Spitzenkandidaten ausklüngelt, ohne Werbeagentur, ohne Riesenetat.

Doch wenn es schlecht läuft, könnte sich in Münster vor allem der Ruf der Chaoten-Truppe festigen. Der Parlamentarische Geschäftsführer der Berliner Piratenfraktion, Martin Delius, fühlt sich an den Hauptstadt-Wahlkampf im vergangenen Herbst erinnert: "Wir hatten auch keine Ahnung von politischen Prozessen", sagt er. Er sieht die Flut der Kandidaten in NRW mit Besorgnis. "Der Landesvorstand sollte sich nicht dazu hinreißen lassen, so viel Energie auf tagelange Personen-Diskussionen zu verschwenden."

Offenbar aus dem Berliner Landesverband stammt auch folgender Appell an mehrere Listenbewerber. "Wegen vieler bitterer Erfahrungen sind die Piraten viel zu vorsichtig geworden, unbeschriebene Blätter wie dich oder mich zu wählen", heißt es darin unter anderem. Und: "Ziehe deine Kandidatur zurück!"

Auch der NRW-Landesvorstand will Münster nicht allein dem unberechenbaren Schwarm überlassen. Es wird erwogen, die Vorstellung der einzelnen Kandidaten von ursprünglich fünf auf drei Minuten pro Bewerber zu reduzieren. Außerdem steht in Münster ein Abstimmungsverfahren mit sogenannter Akzeptanzwahl zur Debatte. Dann würden die beliebtesten Kandidaten schon vor dem eigentlichen Wahlgang rausgefiltert. NRW-Pirat Müller ist optimistisch, dass das funktionieren kann: "Ich setze auf die kollektive Intelligenz unserer Mitglieder."

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