Piratenpartei in der Krise Klar zum Kentern

Modellschiff der Piratenpartei: Neue politische Bewegung steht vor der Spaltung
Foto: Rolf Vennenbernd/ dpaBerlin - Der IT-Verwalter der Juristen an der Uni Münster fristet ein unauffälliges Dasein. Sein Büro liegt versteckt im sechsten Stock, hier sitzt er werktags von neun bis fünf vor zwei Bildschirmen. Nichts in dem kargen Raum deutet darauf hin, dass Jens Seipenbusch, 42, Parteichef ist. Genauer: Chef der Piratenpartei, die bei der Bundestagswahl 2009 zwei Prozent der Wählerstimmen holte.
"Ich bin eben kein Berufspolitiker", sagt Seipenbusch. Es klingt stolz.
Seipenbusch wollte anders sein als andere Parteichefs: weniger machtorientiert, weniger abhängig von der Öffentlichkeit, in der er kaum in Erscheinung trat. Doch inzwischen droht seine Partei in Vergessenheit zu geraten. Seipenbusch widerspricht diesem Eindruck nicht mal. "Dieses Jahr ist ein politischer Durchhänger", sagt er. "Es gab kaum Wahlen, keinen Feind. Wir sind sehr zurückgeworfen auf die eigene Organisation."
Wenige Tage vor ihrem Parteitag in Chemnitz ist die Stimmung bei den auf dem Tiefpunkt. Noch im Herbst vor einem Jahr hatten sie mit ihrer Kampagne gegen Internetsperren vor allem junge, netzaffine Wähler überzeugt. Wie aus dem Nichts entstand plötzlich eine neue politische Bewegung, binnen eines Jahres wuchs sie von 1000 auf rund 12.000 Mitglieder. Sie versprach, moderner zu sein, offener, basisdemokratischer. Ihr Erfolg erschreckte die anderen Parteien.
"Kernis" versus "Vollis"
Doch je größer eine Partei wird, umso zäher werden die Debatten. Jeder soll bei den Piraten mitreden dürfen - weshalb sie nun schon seit Monaten über ihren Kurs streiten.
Die "Kernis" wollen ein Kernprogramm rund um Internetthemen. Die "Vollis" fordern, das Programm zum Beispiel um Umwelt- oder Bildungsthemen zu erweitern - und sind sich dabei auch noch uneinig.
In manchen Landesverbänden bekriegen sich Basisdemokraten mit jenen Piraten, die Parteistrukturen fordern. Eine klare Botschaft haben die Piraten nicht - außer der alten, dass es im Netz freie Downloads geben muss.
Der Parteivorstand hat an der Basis immer weniger Rückhalt. Vor allem Seipenbusch steht in der Kritik. Schon auf ihrem Bundesparteitag im Mai in Bingen klagten die Piraten, der Chef sei nicht präsent. Er habe keine Vision. Sie wählten Seipenbusch nur wieder, weil die anderen Kandidaten noch weniger überzeugten. Die Vorstandswahlen zogen sich über zwei Tage hin, für die Weiterentwicklung des Programms blieb keine Zeit. Seither macht jeder Landesverband, was er will.
Die Positionen sind zum Teil so widersprüchlich, dass der Richtungsstreit die Partei zu zerreißen droht. Während die nördlichen Landesverbände zum Beispiel ein bedingungsloses Grundeinkommen für alle ins Programm schreiben wollen, sind die Süd-Piraten und Parteichef Seipenbusch strikt dagegen.
Auch über die Strukturen herrscht in der Partei keine Einigkeit. In Nordrhein-Westfalen ist der Landesverband deshalb tief gespalten. Zusätzlich zu den kleinen Crews, in denen viele Piraten organisiert sind, wollen manche Parteimitglieder Kreisverbände einrichten. Die Mittel vom Bundesverband müssten dann aber aufgeteilt werden. "Es ist auch ein Streit ums Geld", sagt NRW-Piratenchefin Birgit Rydlewski. "Manchmal war ich erstaunt über den Hass."
Der Elan der Piraten verpufft in Satzungsquerelen
Ein Jahr nach ihrem überraschenden Wahlerfolg zeigt sich, dass es womöglich ein Fehler der Piraten war, ausgerechnet als Partei reüssieren zu wollen. Mit den Hierarchien, die das Parteiengesetz fordert, kommen viele nicht klar, und für radikalen Individualismus ist die Piratenpartei längst zu groß. Wie viel politischen Einfluss dagegen einfache Bürger abseits der Parteienlandschaft haben, sieht man zurzeit überall im Land - unter anderem bei den Protesten gegen die Hamburger Schulreform und den Demos gegen Stuttgart 21.
Der Elan der Piraten, die anfangs mit Kampagnen wie gegen die damalige CDU-Familienministerin Ursula von der Leyen ("Zensursula") Furore machten, verpufft jetzt in Satzungsquerelen und Machtkämpfen. Ihr Traum vom Bundestag scheint weniger realistisch denn je, zumal die etablierten Parteien die Themen der Piraten aufgesogen haben. Alle haben netzpolitische Sprecher benannt, der Bundestag hat eine Internet-Enquetekommission eingerichtet.
Die ersten prominenten Piraten geben inzwischen auf. Vorstandsmitglied Benjamin Stöcker ist schon vor Monaten zurückgetreten, am vergangenen Dienstag kündigte auch Ralph Hinterleitner in einer internen Mail seinen Rückzug vom Amt des internationalen Koordinators an. "Seit Wochen beantworte ich kaum noch fachliche Anfragen, sondern übe mich im Vermitteln, Erklären und Beschwichtigen gegenüber unseren Mitgliedern und internationalen Vertretern", schreibt er. "Leider vermag ich trotz mehrmaliger Anläufe keine Besserung der Situation zu erkennen."
Die Kritik richtet sich besonders gegen Parteichef Seipenbusch. In einem Antrag für den Chemnitzer Parteitag wird seine Abwahl gefordert. Vielleicht ist das aber überflüssig - denn Seipenbusch hegt offenbar selbst Abspaltungspläne. Auf einer internen Mailingliste kündigte er kürzlich an, eine eigene Gruppe gründen zu wollen: die "Außerpiratischen".