
Piraten-Erfolg in NRW Partystimmung im Nerdmobil
Am Wahlabend fehlen Spitzenkandidat Joachim Paul erst einmal die Worte: "Wow!", kommentiert er schlicht, als der orangefarbene Balken in den TV-Prognosen gen acht Prozent klettert. Knapp zwei Monate hat der Biophysiker die Piraten durch den Wahlkampf in Nordrhein-Westfalen geführt. Mit minimalem Budget, einer Truppe politischer Laien und mehr Idealismus als Know-how. Momente später hat sich Paul gefasst. "Heute wird gefeiert, morgen wird geliefert", ruft er Hunderten Piraten entgegen, die zur Wahlparty in den Studentenclub "Zakk" gepilgert sind.
Für die Piratenpartei ist die NRW-Wahl ein Triumph. Nach Berlin, dem Saarland und Schleswig-Holstein haben die Freibeuter mit Nordrhein-Westfalen nun das vierte Landesparlament erobert. 18 Sitze sind Hochrechnungen zufolge im Düsseldorfer Parlament künftig orange besetzt. Die Bundesspitze sieht die Piraten endgültig im "Partei- und Parlamentssystem angekommen".
Noch vor zwei Jahren liefen die Piraten in NRW unter "Sonstige". Damals gab es nicht mal eine zentrale Wahlfete. Und gerade einmal acht Monate ist es her, dass die Berliner Piraten das Hauptstadtparlament enterten und die Erfolgswelle der Piraten einläuteten. Mittlerweile scheinen die Freibeuter von Wahlergebnissen um die acht Prozent kaum noch überrascht. Minuten vor den ersten Prognosen schallen Countdowns und Sprechchöre durch den Studentenclub, es wird gelacht und geprostet, übermütige Piraten lassen Ballons zerplatzen. Mehrere Berliner sind angereist, dazu Schleswig-Holsteins Spitzenkandidat Torge Schmidt, der vor einer Woche einen Wahlerfolg feiern konnte, auch der schwedische Piratengründer Rick Falkvinge schiebt sich durchs Getümmel.
Stimmung im Nerdmobil
Die volle Ladung Freudentaumel spürt man spätestens im Piratenshuttle: einem umfunktionierten Linienbus, der Landesvorstand und Listenkandidaten ins Landtagsgebäude am Rheinufer chauffiert. Während die anderen Parteienvertreter am Wahlabend über verschuldete Kommunen, Energiewende und Standortpolitik debattieren, machen die Piraten erst mal Stimmung wie im Stadion. Landeschef Michele Marsching kommt zu spät, muss vom Busfahrer eingesammelt werden - und wird von einer grölenden Meute begrüßt: "Rück-tritt, Rück-tritt, Rücktritt!" schallt es ihm entgegen, die Businsassen brechen in Gelächter aus.
Alle paar Sekunden brüllt ein Pirat die neuesten Hochrechnungen durchs Nerdmobil. "Wir kriegen noch die FDP!", ruft einer. Sogar die alte Nummer "Die Fahrscheine, bitte!" funktioniert. Auch beim dritten Mal. Spitzenkandidat Paul posiert mit Ehefrau Ursula für diverse Kameras im Piratenbus. Bei ihm erinnert wenig an das Unbeholfene, Improvisierte vieler Parteikollegen. Seine Siegerrede im "Zakk" ist geschliffen wie bei den Profis. "Wir stehen in der Schuld unserer Nachfahren", sagt er, spricht von "Nachhaltigkeit, Freiheit, Respekt". Das klingt fast wie bei den Etablierten, von denen sich die Piraten doch eigentlich unterscheiden wollen.
"Wir fahren nach Berlin!"
Zumindest im Landtag dürfte die künftige Piratenfraktion noch eine Weile ihren Exotenstatus behalten. Die Listenkandidaten ziehen sich quer durch Alters- und Berufsgruppen, nennenswerte Parlamentserfahrung hat niemand. Die 42-jährige Birgit Rydlewski, Listenplatz neun, ist Berufsschullehrerin - und nun bald Abgeordnete. Ihren Schülern hat sie ihren Abschied schon verkündet, zu ihrer letzten Unterrichtsstunde begleitet sie ein Fernsehteam. "Ich werde ein paar Wochen brauchen, um all das zu kapieren", sagt sie.
Der 29-jährige Lukas Lamla ist Berufsfeuerwehrmann, auch er sitzt künftig im Düsseldorfer Landtag. Gleiches gilt für den 54-jährigen Paul, der über seinen Sohn zu den Piraten kam und sich erst im Wahlkampf ein Smartphone zulegte. Er wird ebenso ein Landtagsbüro beziehen wie Landeschef Marsching, IT-Experte in Elternzeit. Paul und Marsching gelten als Realo-Piraten, im Wahlkampf stellten sie mehrfach das streng basisdemokratische Ideal und absolute Transparenz-Gebot der Freibeuter in Frage. Mit dem Erfolg der NRW-Piraten könnten entsprechende Strömungen in der Bundespartei Rückenwind bekommen - also jene Mitglieder, die sich alltagstauglichere Strukturen bei den Piraten wünschen.
Mobile Endgeräte für jedes Kind, ein Schulsystem ohne Klassenverbände, Noten und Sitzenbleiber, einen fahrscheinlosen Nahverkehr, das fordern die Piraten zwischen Rhein und Ruhr in ihrem Wahlprogramm. In der Praxis wollen sie nun erst einmal für mehr "Durchblick und Bürgerbeteiligung" sorgen, verspricht Marsching. Als Oppositionsfraktion würden sie "mit den anderen Parteien zusammenarbeiten und lernen". Spitzenkandidat Paul sieht das etwas anders: "Wir werden eine starke Opposition sein", kündigt er an. Mit der neuen Verantwortung könne die Freibeuter-Partei umgehen: "Jeden Tag ein Abenteuer", so sein Motto.
Und auch das nächste große Ziel ist schon ausgemacht. "Berlin! Berlin! Wir fahren nach Berlin!", schallte es am Wahlabend durch das Piratenshuttle - Nordrhein-Westfalen, da sind sich viele Freibeuter sicher, hat den Siegeszug ihrer Partei zementiert. Dem Einzug in den Bundestag stünde nun nichts mehr im Wege - auch wenn es bis Herbst 2013 noch etwas hin ist. "Uns kann nichts mehr passieren", sagt Piraten-Bundesgeschäftsführer Johannes Ponader Pommes essend im Piratenbus. "Wir können machen, was wir wollen", fügt er hinzu. "Wir kommen rein."