Planspiele für Große Koalition Das schwarz-rote Phantom

Kanzlerin Merkel, Steinbrück (im September 2010): "Bemerkenswerte" Zusammenarbeit
Foto: dapdBerlin - Früher war doch alles besser, so zumindest kann man Volker Kauder verstehen. In der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" lobt der Chef der Unionsabgeordneten im Bundestag die Verdienste der Großen Koalition. "Auf bemerkenswerte Weise" sei es Angela Merkel und Peer Steinbrück da gelungen, die Finanzkrise in den Jahren 2008 und 2009 zu bewältigen.
Und heute? Immer nur Ärger mit der FDP, jetzt haben sich auch noch die Kanzlerin und ihr Vize miteinander angelegt. Angela Merkel spricht ein Machtwort, Philipp Rösler hält sich nicht dran. Es ist zum Verzweifeln. Kauder wünscht sich, "dass die Koalition einmal ein Jahr lang in Ruhe arbeiten kann". So wie früher eben.
Die Worte des Fraktionschefs sind bezeichnend. Kauder ist nicht der einzige in der Union, den die Sehnsucht nach geordneten Verhältnissen umtreibt. Und im gleichen Maße wie diese Sehnsucht wächst, schwindet die Hoffnung, dass im Bündnis mit den Liberalen irgendwann wirklich Ruhe einkehren könnte. In der Öffentlichkeit geben Unionsleute Durchhalteparolen zum Besten, doch hinter vorgehaltener Hand schließt man einen vorzeitigen Koalitionsbruch nicht mehr aus. Und im gleichen Atemzug wird vor allem eine Alternative erwogen: den fliegenden Wechsel in eine Große Koalition.
Erst das Land, dann die Partei?
Warum eigentlich nicht? Es wäre ja durchaus angebracht, wenn die größte Volkswirtschaft Europas in der Schuldenkrise eine geschlossene und handlungsfähige Regierung vorzeigen könnte. Schwarz-Rot, so viel ist klar, wäre nicht die schlechteste Variante. Dass Union und SPD schwierige Situationen gemeinsam meistern können, haben sie zwischen 2005 und 2009 bewiesen. "Große Krisen sind Zeiten für Große Koalitionen", sagt Sachsen-Anhalts Ministerpräsident und CDU-Präsidiumsmitglied Reiner Haseloff. Der regiert in seinem Land selbst mit der SPD und ist voll des Lobes für den früheren SPD-Finanzminister Steinbrück: Den könne er sich gut als Vizekanzler vorstellen.
Das Problem ist nur: Die SPD will nicht. Noch nicht. Bei den Genossen findet sich niemand, der sich eine spontane Neuauflage der in den eigenen Reihen ungeliebten Großen Koalition vorstellen könnte. So ziemlich alle namhaften Sozialdemokraten haben das Szenario des Wechsels von der Oppositions- auf die Regierungsbank vorsichtshalber ausgeschlossen.
Auch Steinbrück selbst. Gutes Verhältnis zur Kanzlerin hin oder her - ein Rettungsbündnis mit den Christdemokraten kommt für ihn nicht in Frage. "Wir haben es nicht mit einer Staatskrise zu tun, in der die SPD dem Grundsatz 'Erst das Land, dann die Partei' folgen müsste", sagt er. "Wenn diese Regierung vor einem Offenbarungseid steht, soll sie sich dem Votum der Bürger stellen." Heißt konkret: Wir sind nicht zu haben. Und ohne Neuwahlen schon gar nicht.
Aus Sicht der Genossen spricht wenig dafür, sich abermals von Merkel einspannen zu lassen. Die SPD beginnt gerade erst, sich von dem Absturz bei der Bundestagswahl 2009 zu erholen. Sollte sie wieder als Juniorpartner in die Regierung wechseln, dürfte es mit der Aufbruchstimmung bei den eigenen Anhängern schnell vorbei sein. Mag sein, dass eine schwarz-rote Regierung für Stabilität und internationale Verlässlichkeit sorgen würde. Die politische Ernte aber, so die große Sorge im Willy-Brandt-Haus, könnte am Ende einmal mehr nicht die eigene Partei, sondern die Kanzlerin einfahren - die Wahl 2009 lässt grüßen. Da ist die Aussicht auf Rot-Grün doch viel schöner.
Ruf nach staatspolitischer Verantwortung
Doch wahr ist auch: Im Ernstfall zählen solche Argumente wenig. Im Ernstfall dürfte es nicht ganz leicht werden, sich den Lockrufen aus der Union zu entziehen und auf Neuwahlen zu pochen. "Neuwahlen", so kommentiert die "Süddeutsche Zeitung", "sind nicht nur ein Problem, weil das Land dank schwarz-gelber Versäumnisse kein gültiges Wahlgesetz mehr hat. Neuwahlen sind vor allem ein politisches Problem, weil es sich Europa eigentlich nicht leisten kann, dass in Frankreich vor der Präsidentenwahl und in Deutschland vor einer Bundestagswahl über Wochen und Monate Politik nur simuliert wird."
Anders gesagt, unsichere Verhältnisse durch unsichere Verhältnisse ersetzen zu wollen, könnte in Krisenzeiten nach hinten losgehen. Rasch würden die Sozialdemokraten wohl mit dem Vorwurf konfrontiert werden, um die Macht zu pokern und die staatspolitische Verantwortung außer Acht zu lassen. Von der Rettung Europas ganz zu schweigen.
Dass diese Gefahr auch in der SPD gesehen wird, zeigt ein Gedankenspiel, das mancher Genosse derzeit entwirft. Es geht so: Sollte die schwarz-gelbe Regierung implodieren und Merkel die SPD um Hilfe bitten, würden sich die Sozialdemokraten nicht komplett verweigern. Die Genossen würden auf Neuwahlen pochen, die die Kanzlerin durch eine verlorene Vertrauensfrage herbeiführen müsste. Bis zum Urnengang müssten dann maximal drei Monate überbrückt werden. In dieser Zeit könnte die SPD in den europapolitischen Fragen und wichtigen Abstimmungen informell mit der Kanzlerin kooperieren. Es wäre eine Art Tolerierung einer geschäftsführenden Merkelschen Minderheitsregierung. Aber eben nur in Sachen Europa. Und nur übergangsweise.
CDU und CSU hätten durch diese Euro-Koalition auf Zeit wenig gewonnen - außer einen gewissen Grad an Handlungsfähigkeit. Neuwahlen dürften für Merkel und die Union nach derzeitigem Stand den Machtverlust bedeuten, selbst wenn sie wieder stärkste Kraft würden: Die FDP fällt als Mehrheitsbeschaffer aus, Rot-Grün liegt in den Umfragen seit Monaten deutlich vorn.
Wohl nur ein Absturz der 20-Prozent-Grünen könnte die Union bei einem vorzeitigen Urnengang retten. Würde die Öko-Partei zurecht gestutzt, käme sie als Koalitionspartner in Frage. Und wenn die Grünen nicht wollen, bliebe ja immer noch die Große Koalition.