Polemik Scharia ist für alle da!

Der Erzbischof von Canterbury hat vorgeschlagen, die Scharia in Großbritannien teilweise einzuführen. Henryk M. Broder sieht das als einen weiteren Schritt der westlichen Welt, sich der integrationsunwilligen muslimischen Einwanderer-Minderheit unterzuordnen.

Im Herbst 2006 schreckte halb Holland auf, als ein Buch des damaligen niederländischen Justizministers erschien, in dem er über die Einführung der Scharia in Königreich der Oranjer räsonierte. "Wie lässt sich dies (die Einführung der Scharia) legal verhindern? Einfach 'unmöglich' zu sagen, wäre ein Skandal. Die Mehrheit zählt. Das ist nun mal das Wesen der Demokratie." Sollten sich zwei Drittel der Holländer für die Scharia aussprechen, so wäre deren Einführung unvermeidlich. In die Defensive gedrängt, erkläre der Minister, er habe nur "auf das demokratische Prinzip" hinweisen wollen, dass die Verfassung mit einer Zweidrittelmehrheit geändert werden könnte.

Zugleich freilich kritisierte er die laufende Einwanderungs- und Integrationsdebatte. "Mir gefällt der Ton der politischen Debatte nicht. 'Du musst Dich anpassen, unsere Normen und Werte annehmen, sei vernünftig, mach es wie wir' - das entspricht nicht meinen Vorstellungen, wie es laufen sollte."

Wie es entsprechend seinen Vorstellungen laufen sollte, das ließ der Minister offen. Was bei vielen Holländern den Eindruck verstärkte, nicht die Einwanderer sollten "unsere Werte und Normen annehmen", sondern die Einheimischen sollten sich an die Werte und Normen der Einwanderer anpassen.

Im Sommer 2007 schlug der ehemalige Bischof von Breda, Tiny Muskens, ein liberaler Katholik, vor, den Begriff "Gott" durch "Allah" zu ersetzen. Allah sei ein schöner Name für Gott, deswegen könne man Gott mit gutem Gewissen auch Allah nennen.

Kurz darauf verbot der sozialdemokratische Bürgermeister von Brüssel, Freddy Thielemans, eine Kundgebung gegen die schleichende Islamisierung Europas, die am sechsten Jahrestag von 9/11 stattfinden sollte. Zugleich wurden die Brüsseler Polizisten angewiesen, während des Fastenmonats Ramadan nicht in der Öffentlichkeit zu rauchen oder zu essen, um die religiösen Gefühle der Muslime nicht zu verletzen. Etwas weiter südlich, in Zürich, wurden die Polizisten aufgefordert, sich mit der islamischen Kultur vertraut zu machen, indem sie im Ramadan freiwillig einen Tag lang auf Essen und Trinken verzichten.

Wie der "Islamic extremism" verschwand

Derweil gab die BBC in ihrer Internet-"Section on Islam" eine Neuerung bekannt: Wann immer der Name des Propheten erwähnt werde, solle sogleich der Zusatz folgen: "Peace be upon him", der Friede sei mit ihm. Das, erklärte ein Sprecher der BBC, sei man einer "fairen und ausgewogenen" Darstellung des Islam schuldig.

Es dauerte nicht lange, und das britische Innenministerium kündigte eine weitere Sprachregelung für den amtlichen Gebrauch der Regierung an: Begriffe wie "war on terror" und "Islamic extremism" sollten nicht mehr benutzt werden. Innenministerin Jacqueline Jill Smith erklärte, die Extremisten würden nicht im Namen des Islam agieren, sondern gegen ihren Glauben. Deswegen sollten deren Taten als "anti-islamische Aktivitäten" bezeichnet werden. Auf diese Weise schaffte Frau Smith den Terrorismus mit einem rhetorischen Trick ab.

Wie in England üblich, wurde die Verfügung der Ministerin gelassen hingenommen. Nur ein paar extrem kritische Briten fragten sich, warum in Zeiten der IRA-Terrors nicht von "anti-irischen Aktivitäten" geredet wurde.

Und nun will ein britischer Geistlicher die Scharia in England einführen, nicht irgendein Pastor aus einem walisischen Dorf, sondern das geistliche Oberhaupt der anglikanischen Kirche, Rowan Williams, der Erzbischof von Canterbury. Man müsse der Tatsache ins Auge blicken, dass sich manche Bürger mit dem britischen Recht nicht identifizieren könnten; einige Aspekte der Scharia zu übernehmen, könnte helfen, soziale Spannungen zu vermeiden. Bei Ehekonflikten und Finanzstreitigkeiten sollten die Beteiligten die Wahl zwischen dem britischen Recht und der Scharia haben.

Rein sachlich, auf der faktischen Ebene, mag der Erzbischof sogar Recht haben. Es würde tatsächlich helfen, soziale Spannungen zu vermeiden, wenn die Muslime bei Heirat und Scheidung nicht die Regeln des britischen Rechts beachten müssten. Auch einigen Nicht-Muslimen käme so eine Option sehr gelegen. Eine "Ehe auf Zeit", wie sie nach der Scharia möglich ist, hat ganz gewiss viele Vorteile, vor allem, wenn sie nur auf ein paar Stunden oder ein paar Tage geschlossen wird.

Die Gesellschaft - eine Betriebskantine?

Nur irrt sich der Bischof, wenn er glaubt, man könne eine Gesellschaft wie eine Betriebskantine organisieren, deren Benutzer die Wahl zwischen einem Fleischgericht und einen vegetarischen Menü haben. Ein wenig Scharia kann es genauso wenig geben wie ein wenig Schwangerschaft. Die Scharia regelt das ganze Leben, wer sie nur in Teilen übernehmen will, hat von der Zwangsläufigkeit, die ihr innewohnt, keine Ahnung. Es ist, als würde man in einem Freibad das Nacktbaden unter der Bedingung erlauben, dass jeder Besucher darüber entscheiden darf, welches Kleidungsstück er ablegen mag.

Der Vorschlag des Erzbischofs von Canterbury zeugt nicht nur von einer ungeheuerlichen Naivität, er zeigt auch, wie weit die Idee der präventiven Kapitulation vor einem unlösbaren Problem vorangekommen ist.

Da ein Teil der Migranten nicht willens oder nicht in der Lage ist, die Regeln der Gesellschaft anzunehmen, soll die Gesellschaft die Regeln der Migranten übernehmen. So kann "Integration" auch definiert werden - als ein Auftrag an die Mehrheit, sich der Minderheit anzupassen.

Wählen unter der Burka

Und wenn die Koedukation an den Schulen aufgehoben und die Burka für alle Frauen eingeführt wurde, wenn in keinem Pub mehr Ale ausgeschenkt wird und weibliche Passagiere ihre eigenen Abteile in Bussen und Zügen haben, in denen sie vor den gierigen Blicken der Männer sicher sind, dann wird auch der letzte Gegner der Scharia einsehen müssen, dass die sozialen Spannungen in der Tat nachgelassen haben. Wer in einem lichtlosen Keller lebt, braucht vor einem Sonnenbrand keine Angst zu haben.

Und was kommt als Nächstes? Werden Frauen das Recht haben, an Wahlen teilzunehmen, ohne ihr Gesicht zeigen zu müssen? So ist es! Demnächst dürfen auch völlig verschleierte Frauen ihre Stimmen abgeben, vorausgesetzt, sie bringen zwei Ausweise und einen Zeugen mit, der ihre Identität bescheinigt.

Noch nicht in England. Aber immerhin schon im liberalen Kanada, das auch zum Commonwealth of Nations gehört, an dessen Spitze der britische Monarch steht.

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