Politikverdrossenheit Demokratie? Voll krass.
Hamburg - Bianca wäre wahrscheinlich nicht zufrieden mit den demokratischen Abläufen - wenn sie wüsste, was das ist. Was die 25-Jährige weiß, ist, dass sie sich ärgert. Darüber, dass sie demnächst wieder mehr für Zigaretten zahlen soll. Darüber, dass für ihren Staffordshire eine Kampfhundsteuer fällig wird, obwohl er nie jemanden gebissen habe. Und darüber, dass "die Politiker" ihr eine bessere Zukunft für ihren Sohn versprächen, sie davon aber beim besten Willen noch nichts sehen könne.
Bianca lebt in Mümmelmannsberg in Hamburg-Billstedt, einem sozialen Brennpunkt: Hohe Arbeitslosigkeit, 22,7 Prozent Ausländeranteil, die meisten Menschen leben in Sozialwohnungen. Die Bäume an der Hauptstraße sollen die Betonwüste vor vollendeter Trostlosigkeit bewahren. Hochhäuser und Platte bestimmen das Bild, im Zentrum Supermärkte, eine Lotto-Annahmestelle, ein Büro für Sportwetten. Und eine Bushaltestelle. "Nach 22 Uhr sollte man hier nicht mehr rumlaufen", sagt Bianca. "Da treffen sich die Jugendlichen, die trinken, Drogen nehmen und sich prügeln wollen." Bianca sitzt im Sonnenstudio und lässt sich ihre künstlichen Fingernägel reparieren. Sie mag Mümmelmannsberg. Hier ist sie aufgewachsen, hier lebt sie mit ihrem dreijährigen Sohn und ihrem Mann. Der ist gelernter Altenpfleger und arbeitslos. Bianca arbeitet öfters für eine Reinigungsfirma, holt ihren Hauptschulabschluss nach, eine Friseurlehre hat sie abgebrochen.
Wählen? "Hat nichts gebracht"
Von Politik habe sie nicht viel Ahnung, sagt Bianca. Sie meidet dabei den direkten Blickkontakt. Sie ist nur einmal zur Wahl gegangen. "Hat aber nichts gebracht." Seither verweigert sie sich. Was ist Demokratie für sie? Sie zögert, denkt nach, zuckt mit den Schultern, seufzt: "Es muss sich einfach nur ändern." Sie meint damit nicht die Staatsform; so ein Begriff hat keine praktische Bedeutung für sie. Bianca sagt, dass sie unzufrieden ist. Mit vielem. Sie sieht die Schuld bei "Politikern", die "Dinge versprechen" und sich daran "nicht halten": "Die halten uns an der kurzen Leine. Und die schicken viel zu viel Geld ins Ausland. Für hier bleibt nicht genug." Bianca fühlt sich benachteiligt, wodurch auch immer. Gerecht sei ein Land, in dem Menschen für einen Euro pro Stunde arbeiten müssten, sowieso nicht.
Bianca schaut immer wieder in Richtung der stark gebräunten, älteren Frau hinter der Theke. Die nickt zustimmend oder aufmunternd, je nachdem. Auch sie ist unzufrieden. Sie schimpft über die Renten- und Gesundheitspolitik, die Dritte Welt und "die Politiker" im Allgemeinen. Es ist fast wie bei Bianca.
Aber die 62-Jährige geht wählen. Schon immer. Sie wird es weiter tun: "Wir müssen einfach. Die registrieren das ja, man bekommt eine Benachrichtigung, und wenn man nicht wählt, wissen die das." Es klingt nach gefühltem Zwang, nicht nach demokratischem Bürgerrecht. Es klingt aber auch nach Scham. Wählen - macht man eben. Auch wenn man überzeugt ist, dass die eigene Stimme nichts bringt.
Demokratie? "Einer für alle, alle für einen"
Der 26-jährige Hayrettin drückt das so aus: "Demokratie heißt für mich: einer für alle, alle für einen. Und das ist jetzt nicht der Fall. Hat man das Geld, hat man was zu sagen. Die anderen nicht." Hayrettin hat wenig Geld, zwei Kinder und arbeitet als Schlosser. Aber er geht immer wählen. Besonders unzufrieden wirkt er nicht - eher ratlos. "Ich habe einmal SPD gewählt, einmal CDU. Und was kommt dabei raus? Nix." Natürlich gebe es viele Länder, die wesentlich schlimmer dran seien als Deutschland. "Aber Deutschland sackt ein. Die investieren zu viel ins Ausland und zu wenig hier." Er hat seine ganz eigene Vorstellung, wie das Problem zu lösen ist: "Ich glaube, ich werde das nächste Mal eine rechte Partei wählen. Die sind ja nationalistisch."
Auch der 42-jährige Lagerarbeiter Michael würde sich nicht der Demokratie verweigern. "Ich bin zwar nicht zufrieden. Aber ich gehe trotzdem wählen. Damit ich mitreden kann." Mitreden - das meint er nicht im Sinne von bürgerschaftlichem Engagement. Er meint es im Sinne von Gruppendruck, von sozialem Zwang. "In meinem Freundeskreis gehen einfach alle wählen", sagt er, "da kann ich nicht außen vor bleiben."
Biancas Freunde wählen nicht.