Politische Quereinsteiger Der Alltag entzaubert die Hoffnungsträger

Berufspolitiker stehen auf der Beliebtheitsskala ganz unten - und werden für die Politikverdrossenheit verantwortlich gemacht. Seiteneinsteiger werden dagegen wie Heilsbringer verklärt. Dabei verschärfen sie die politische Vertrauenskrise sogar noch, wenn sie frustriert aufgeben.
Von Robert Lorenz und Matthias Micus

Alle kennen sie, keiner mag sie: die Berufspolitiker. Ihre hervorstechenden Merkmale sind jedem politisch Interessierten hinlänglich bekannt. Unsere Politiker, so heißt es auch in den aktuellsten Darstellungen des Wahljahres von Robin Mishra bis Gabor Steingart unisono namentlich über jene in Berlin, seien unfähig und entscheidungsschwach, mit den drängendsten Problemen würden sie nicht fertig. Von der Gesellschaft und ihren Anliegen hätten sie sich abgekoppelt und ohnehin nur ihr eigenes Wohl im Kopf, über das sie, Stichwort: Diätenerhöhung, zu allem Übel auch noch selbst bestimmen können.

Vor diesem düsteren Szenario erstrahlen die Seiteneinsteiger in hellstem Licht. Sie sind die Hoffnungsträger und Wunderknaben der Politikkundigen, ein jeder ein potentieller Barack Obama. Seiteneinsteiger, also Erfolgreiche in nichtpolitischen Berufen, die quer direkt in ein politisches Spitzenamt überwechseln, zeichnen sich dem öffentlichen Urteil zufolge durch ein großes Fachwissen aus. Sie sind primär an der Sache orientiert, glaubwürdig und obendrein unabhängig, da sie sich schon finanziell eine abweichende Meinung leisten können und keinem Oktroi beugen müssen.

Blickt man indes genauer hin, entpuppen sich all die scheinbaren Gewissheiten über Berufspolitiker und Seiteneinsteiger rasch als Klischees. Berufspolitiker - eine neuartige Erscheinung? Tatsächlich lässt sich nicht einmal mit Gewissheit sagen, ob ihre Zahl in den vergangenen 30 Jahren überhaupt gestiegen ist. Unabhängig davon, dass auch die Idole der prominenten Diagnostiker einer Politikerverdrossenheit außer Politik nicht viel gemacht haben, seien es Konrad Adenauer, Willy Brandt oder der gegenwärtig lagerübergreifend gefeierte Helmut Schmidt.

Sind Berufspolitiker durch ihre Parteien fremdgesteuert? Ein Blick auf die Seiteneinsteiger-Nation USA wirft die Gegenfrage auf, ob Seiteneinsteiger nicht mindestens so abhängig sind von parteifernen Partikularinteressen, zum Beispiel Wirtschaftsunternehmen, wie Parteisoldaten von ihrer Partei. Die politische Klasse ist abgekoppelt und hat bloß ihr eigenes Wohl im Kopf? In Wirklichkeit sind die Einkünfte von Spitzenpolitikern im Vergleich mit anderen Elitegruppen - wiederum beispielsweise aus der Wirtschaft - eher niedrig, und der Verdacht liegt nahe, dass das Recht zur Selbstfestlegung aufgrund des Hautgouts, das jeder Diätenerhöhung anhaftet, eher zu Selbstbescheidung als ungehöriger Bereicherung führt.

Um schließlich beurteilen zu können, ob Berufspolitiker wirklich unfähig sind, muss erst mal geklärt werden, was Politiker können müssen, ja noch allgemeiner: was Politik überhaupt ist. Von Adenauer stammt das Bonmot, er kenne viele Menschen, die jahrelang politisch tätig seien und dennoch nicht wüssten, was Politik ist. Er kenne sogar, so der Altkanzler mit Blick auf Ludwig Erhard seinerzeit weiter, einen Bundesminister, der keine Ahnung von Politik habe.

Folgt man Adenauer, geht es in der Politik nicht bloß um "die Sache". Politiker müssen vielmehr stets die Situation beachten, in der die Sachfragen stehen. Sie wissen, dass ein selbstgestecktes Ziel zu erreichen, eine große Varianz in der Wahl der Mittel und Methoden erfordert; dass die eigenen Vorstellungen stets an den aktuellen Verhältnissen kritisch überprüft werden müssen, sollen sie nicht zu Schablonen erstarren; und dass für den Erfolg eines Politikers die Kenntnis und der richtige Umgang mit den übrigen Beteiligten unerlässlich ist.

Ein Politiker, wie Adenauer ihn verstand, muss folglich über Instinkt und Einfühlungsvermögen in die jeweilige Situation wie auch die Interessen seiner Verhandlungspartner verfügen. Er darf sich durch eigene Vorannahmen und Urteile des Weiteren nicht die Wahrnehmung kurzfristiger Handlungsspielräume vernebeln lassen, muss also über eine große situative Intelligenz und eine ebenso ausgeprägte Fähigkeit zum Zuhören verfügen.

Politische Führung ähnelt insofern beinahe der Quadratur eines Kreises, Politiker müssen sich gleich ein ganzes Bündel verschiedenster, miteinander bisweilen auch kollidierender Fertigkeiten aneignen. Sie brauchen Entscheidungskompetenz und müssen Probleme wie Lösungswege rasch erfassen können, wozu ein feines Gespür für das richtige Timing, Selbstvertrauen und Entschlussfreude notwendig sind.

Andererseits erfordert die Verhandlungsdemokratie der Bundesrepublik ganz elementar auch Kooperationswillen, als dessen Grundlagen Fairness, Verlässlichkeit und Geduld gelten. Und zu alledem müssen Politiker auch noch gesellig und kontaktfreudig im Umgang mit dem Wahlvolk, selbstinszenierungsbegabt gegenüber den Medien und allgemein ehrlich, anständig und vorbildhaft sein.

Seiteneinsteiger verzweifeln häufig an der Politik

Da Politik, wie bereits Bismarck wusste, "eine Kunst" ist, lässt sie sich nicht durch einen Studiengang und den Erwerb formaler Eignungsnachweise erlernen. Auch eine feste Aufgabenstruktur gibt es für den Politiker nicht. Das notwendige Wissen und Können ist vielmehr nur durch praktische politische Erfahrung, kurz: durch "learning by doing" erwerbbar. Eben hierfür aber bietet die "Ochsentour" mit ihrer Vielzahl an Bewährungszwängen in den verschiedenen politischen Ämtern und Mandaten der unterschiedlichen Ebenen grundsätzlich geradezu ideale Bedingungen.

Andererseits ist die Klage über einen Mangel an Farbe, Kanten und Kaliber bei dem Gros der gegenwärtigen politischen Elite unzweifelhaft berechtigt. Doch liegen die Ursachen für die wahrgenommene Biederkeit des politischen Spitzenpersonals weniger in diesem selbst als in den äußeren Umständen. Die Westdeutschen mussten - glücklicherweise - nach NS-Diktatur, Weltkrieg und Nachkriegschaos nicht mehr durch das Stahlbad dramatischer Zeitläufte, erschütternden Leids und polarisierter Ideologien.

Politik hatte bis weit in die Nachkriegsdemokratie hinein für viele Ex-Häftlinge, Frontsoldaten und Remigranten, die oftmals dem Tod ins Auge geblickt hatten, einen existentiellen Charakter besessen. Das ist heute - wiederum: glücklicherweise - anders und Politik ein Job wie andere auch. Zudem war Politik in Zeiten blockierter Bildungswege eine wichtige Leiter des sozialen Aufstiegs ohne Zertifikat und zog eben dadurch begabte, willensstarke Naturen an.

Nicht zuletzt erschlossen die sozialmoralischen Milieus den Parteien ein breites Spektrum vielfältig geprägten Nachwuchses, sei es dem kirchennahen, gewerkschaftlichen oder wirtschaftsbürgerlichen Bereich. Auch diese Quellen sind versiegt, seitdem die Milieus erodierten und die Bildungswege für alle Schichten geöffnet wurden - ebenso wie auch der traditionelle Respekt einer lange gouvernmental geprägten Kultur vor dem Politikerberuf längst geschwunden ist.

Seiteneinsteiger könnten der politischen Klasse infolgedessen durchaus zusätzliche Farbe verleihen. Bloß stimmt es nicht, dass sie von einer besitzstandswahrenden Politikerkaste nur nicht gerufen werden - sie überhören oftmals auch ganz bewusst die Rufe.

Schließlich ist der Wechsel in einen so zeitraubenden, arbeitsintensiven und erwartungsüberfrachteten Beruf, wie die Politik ihn darstellt, für etliche Elitenangehörige nicht eben attraktiv. Zumal wenn das Engagement kein zusätzliches Renommee zu verleihen verspricht, mit einem hohen Abwahlrisiko verbunden und obendrein schlechter bezahlt ist, als die bisherige Tätigkeit.

Und wenn sie sich trotz allem dennoch dafür entscheiden, in die Politik zu gehen, verzweifeln sie zumeist alsbald an den Eigenheiten ihrer neuen Wirkungsstätte. Gerade Wissenschaftler und Wirtschaftsführer scheitern daher mit großer Regelmäßigkeit, wenn sie sich für einen Seitenwechsel entscheiden. Unternehmer beispielsweise fremdeln mit der ständigen Notwendigkeit zur Begründung von Entscheidungen, erfolgt doch in der Wirtschaft Handeln eher aufgrund von Befehlen und Anweisungen.

Entsprechend gering entwickelt ist ihre Diskussions- und Rechtfertigungsbereitschaft. Auch die Unklarheit, in der Politik Erfolg und Misserfolg zu bestimmen, stellt für Wirtschaftskapitäne eine Terra incognita dar. Wissenschaftler wiederum sind es gewohnt, ihre Überzeugungen dogmatisch zu vertreten und in der Vereinzelung ihrer Schreibstube zu forschen, während in der Politik Flexibilität und Kontaktfreude gefordert sind.

Infolgedessen überrascht es wenig, dass Seiteneinsteiger ihr politisches Engagement oftmals bereits nach kurzer Zeit wieder beenden, dass - wie es über Kurt Biedenkopf geheißen hat - bald aus Wunderknaben wunde Knaben werden. Eher als den Ruf der Politik zu verbessern, reduzieren Seiteneinsteiger durch ihre Sprunghaftigkeit und Unberechenbarkeit noch zusätzlich das höchste Gut der Demokratie: das Vertrauen in die Politik. Eben das macht auch den Fall Werner Marnette symptomatisch für das Phänomen Seiteneinsteiger insgesamt.

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