Porträt einer Lehranstalt Der Abstieg der Rütli-Schule
Berlin - Vor gut einem Jahr zogen fünf Zehntklässler der Neuköllner Rütli-Hauptschule mit einer Videokamera durch ihren Bezirk. Auf der Straße befragten sie Passanten zu deren Einstellungen zu Gewalt und Homosexualität. Der Film zum Thema "Sexualität und Geschlecht in der Einwanderungsgesellschaft" wurde vom Bundesjugendministerium ausgezeichnet und ins Internet in eine "Gute-Beispiele-Datenbank" gestellt.
In der Rütli-Schule jedoch wurde das Werk nie gezeigt. Die fünf Jungs hätten Angst vor den Reaktionen ihrer Mitschüler gehabt, erklärte hinterher der Betreuer des Filmprojekts der "tageszeitung". Schließlich kennen die Schüler "schwul" nur als Schimpfwort.
Die Episode wirft ein weiteres Schlaglicht auf die Schule, deren Lehrerkollegium in einem gestern veröffentlichten Brief um Hilfe gerufen hat und die seither bundesweit Schlagzeilen macht. Rütli - das ist das neueste Symbol der gescheiterten Integration von Migranten oder, genereller, der Verwahrlosung der Institution Hauptschule.
Das war nicht immer so. Bei der Geschichte der Rütli-Schule handelt es sich um den Abstieg einer früheren Vorzeigeschule. Die glorreichen Zeiten sind freilich schon eine Weile her: In den 1920er Jahren war Rütli der Inbegriff der neuen "Reformschule". Kommunistische Arbeiter ebenso wie linke Intellektuelle schickten ihre Kinder aus Überzeugung auf die Schule, in der Lehrer geduzt wurden und Jungen gemeinsam mit Mädchen an Handarbeitskursen teilnehmen mussten. Die gemischten Klassen galten als ebenso revolutionär wie die Projektarbeit und die vielen Arbeitsgemeinschaften. Die Rütli-Schule nahm vorweg, was einige Jahrzehnte später als anti-autoritäre Erziehung zum Zeitgeist wurde. Sogar ein Kreis kommunistischer Widerstandskämpfer ging aus ihr hervor; die jungen Männer und Frauen wurden 1942 von den Nazis hingerichtet.
Parallele zu den 1930er Jahren
Noch vor der Machtergreifung der Nazis zerfiel das Reformprojekt jedoch: Die zunehmende Arbeitslosigkeit der Familien im Zuge der Großen Depression führte zu Zuständen, die an die Klagen des heutigen Lehrerkollegiums erinnern. "Diebstähle, Widersetzlichkeiten, demonstrative Leistungsverweigerung, zunehmende Aggressivität der Schüler gegeneinander", beschreibt eine Publikation des Neuköllner Museums das Schülerverhalten Anfang der dreißiger Jahre.
Nach dem Krieg wurde die Rütli-Schule eine ganz gewöhnliche Hauptschule. Im "Tell-Stübchen", einer Bierpinte nur einen Steinwurf von der Schule entfernt, sitzt heute einer ihrer Absolventen, Abschlussjahrgang 1954. "Zu meiner Zeit gab es an der Schule keine Gewalt", berichtet der Elektriker, der seinen Namen nicht veröffentlicht sehen möchte. "Wer Ärger gemacht hätte, dem wäre auch vom Lehrer sofort eine gescheuert worden." Wer schwänzte, bei dem Stand der Lehrer zuhause auf der Matte - "und es gab Keile von Mutter". Natürlich hätten die Schüler auch Quatsch gemacht, "Klassenkeile" war damals nicht unbekannt - aber "außerhalb der Schule, im Reuter-Park, mit festen Regeln", betont er. Er erinnert sich auch noch an Schulausflüge, etwa zu "den Amis am Wannsee in den Großen Ferien" oder in den Zoologischen Garten, "wo es noch vom Krieg ganz schlimm aussah."
Heute, berichten ehemalige Lehrer der Rütli-Schule, seien Ausflüge kaum noch möglich, weil es immer Ärger gebe. Unter Schülern anderer Hauptschulen genießt die Rütli-Schule einen besonders schlechten Ruf. "Wenn bei uns jemand Gefahr läuft, nicht versetzt zu werden, sagen die anderen: Pass auf, bald kommst du auf die Rütli-Schule", erzählt Rudolf Rogler, seit 1974 Lehrer an der Neuköllner Anna-Siemsen-Hauptschule.
In 20 Jahren von 33 auf 83 Prozent Ausländeranteil
Warum ist die einstige Musterschule so tief gefallen? Es gibt keinen bestimmten Punkt, kein Datum, an dem die Verhältnisse an der Rütli-Schule gekippt sind. Es war ein schleichender Prozess. Irgendwann in den Jahren, als die Deutschen den Döner schätzen lernten, aber über die heranwachsende Generation von hier geborenen Ausländerkindern nicht nachdenken wollte, etablierten sich allmählich immer drastischere Zustände an der Rütli-Schule - und anderswo.
Hauptschullehrer Rogler sagt, seit den neunziger Jahren werde die Integration der ausländischen Schüler immer schwieriger, weil die Eltern als Vorbilder ausfielen. Seitdem gebe es das Phänomen ganzer Sozialhilfefamilien, in denen keiner mehr arbeiten gehe. Die Schüler seien die einzigen im Elternhaus, die morgens aufstünden. "Die Eltern werden mehr und mehr als Loser wahrgenommen", so Rogler.
Der ehemalige Schüler aus dem Tell-Stübchen, der sein Leben lang in Neukölln gewohnt hat, wuchs nicht nur in disziplinierteren, sondern auch in hoffnungsfroheren, in Wirtschaftswunder-Zeiten auf: "Ich hatte sofort eine Lehrstelle", erinnert sich der Elektriker. "Einen Tag Schulabschluss, nächsten Tag Arbeitsbeginn." Das gibt es kaum noch.
In der Rütli-Schule kommen beide Probleme seit Jahren zusammen. In einer Festschrift zum 80. Jubiläum der Rütli-Schule im Jahr 1984 wurde das Phänomen des stetig steigenden Ausländeranteils erstmals durch die Schule selbst thematisiert: "Soweit möglich werden die ausländischen Schüler auf die deutschen Klassen verteilt. Doch schließlich ist ihre Zahl in den 7. und 8. Klassen so groß, dass türkische Klassen gebildet werden müssen." Was sich hinter diesen Zeilen verbirgt, ist eine Explosion: 1984 lag der Anteil nichtdeutscher Schüler noch bei 33 Prozent, 1999 schon bei 58 Prozent, heute bei 83 Prozent. Die Schule wurde schlicht überrollt von einer Situation, auf die sie nicht vorbereitet war.
1980er: Separate Klassen für türkische Kinder
Die Pädagogen versuchten gegenzusteuern: "Schüler mit geringen deutschen Sprachkenntnissen werden in besonderen Vorbereitungsklassen zusammengefasst. Türkische Lehrkräfte werden eingestellt." Doch ein Erfolgsrezept scheint das nicht gewesen zu sein. Die Gewalt an der Schule nahm zu, die Abbrecherrate ebenso - und genau so die Angst und der Frust der Lehrer.
Nun wird viel spekuliert, wieso offensichtlich die Ausländer die Gewalt an die Schule brachten. Ist es, weil sie von der Perspektivlosigkeit auf dem Arbeitsmarkt besonders betroffen sind und keinen Anreiz haben, sich zusammen zu reißen? Liegt es daran, dass in türkischen und arabischen Familien die einzigen männlichen Vorbilder gewalttätige Männer sind? Keiner weiß die Antwort - aber die Indizien für einen Zusammenhang sind nicht zu übersehen. Liegt in der Umkehrung die Lösung der Misere verborgen? Deutsche Schüler müssten in jeder Klasse die Mehrheit bilden - so lautet der unrealistische Lösungsvorschlag von Lehrer Rogler. Die Rektorin der Rütli-Schule, eine sehr engagierte Pädagogin, hat sich besonders durch die Vermittlung von Betriebspraktika hervorgetan. Doch das hat als Antwort offensichtlich nicht ausgereicht.
Polizeiwagen, Reporterteams, Politikerbesuch: Auch heute stand die Rütli-Schule im Zentrum der Aufmerksamkeit. Die Schüler, gestern eher aggressiv angesichts des Rummels, amüsieren die Journalisten heute stattdessen mit arabischer "Dabka"-Einlage: Volkstanz im Ghetto. Mittlerweile hat die Schule Zusagen bekommen für neue Kräfte, die Arabisch und Türkisch sprechen; eine Fusion mit der benachbarten Heinrich-Heine-Realschule ist im Gespräch. Sie hat ihren SOS-Ruf abgesetzt und ist gehört worden. Immerhin.