Presseschau Verlust jeder Scham und ein böses Omen

Georg Milbradts Wiederwahl geriet zu einem Triumph der Rechtsextremen. Darüber sind sich die Kommentatoren der Tageszeitungen einig. Einige Politiker der neuen Koalition würden darauf brennen, die Prophezeiung der NPD zu erfüllen, dass in Sachsen "die BRD abgewickelt" werde. Ein "rabenschwarzer Tag für die Demokratie".

"Süddeutsche Zeitung"

Der Ablauf der Wahl markiert fürs Erste das Ende der lange gepriesenen Stabilität in der Politik des ostdeutschen Musterlandes Sachsen. Dies gilt umso mehr, da die doppelte Ohrfeige für Milbradt von einem handfesten Skandal begleitet wurde. Mindestens zwei Abgeordnete anderer Fraktionen - also aus dem demokratischen Lager - haben zweimal für den Kandidaten der NPD gestimmt. Ein Eklat zum Schaden des Landes, denn sie demonstrierten in geheimer Wahl, dass ihnen die nötige Distanz zu den Rechtsextremisten fehlt, das selbstverständliche Wissen, dass man der NPD selbst aus taktischen Gründen nicht die Stimme geben darf.

"Frankfurter Allgemeine Zeitung"

Jene Abgeordneten aber, die das Dunkel der Anonymität nutzten, um Ministerpräsident Milbradt im ersten Wahlgang durchfallen zu lassen, und auch im zweiten Wahlgang noch dem braungefärbten Gegenkandidaten zwei Leihstimmen verschafften, können mit dieser Demokratie nicht viel im Sinn haben. Sie haben den Rechtsextremisten einen Triumph beschert, der deren Wahlerfolg noch übertrifft. (...) Einige Politiker der neuen Koalition brennen offenbar darauf, die Prophezeiung des NPD-Vorsitzenden Voigt zu erfüllen, dass in Sachsen "die BRD abgewickelt" werde. Wenn so die "offensive Auseinandersetzung mit der NPD" aussieht, die sich die übrigen fünf Fraktionen in die Hand versprochen hatten, muss man sich um Sachsen doch allmählich Sorgen machen.

"Frankfurter Rundschau"

Wer aus parteitaktischen Spielchen oder aus Frust die neuen Nazis stärkt, zerstört Demokratie. Wer mit dem Feuer spielt, anstatt es zu löschen, darf sich nicht wundern, wenn dem Parlamentarismus und den demokratischen Parteien Zustimmung und Anhänger abhanden kommen. Seit Jahren mühen sich in Sachsen Organisationen gegen Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit darum, junge Leute zu weltoffenen Demokraten zu erziehen und das Vordringen des braunen Gesindels an Schulen und in Jugendclubs zu bremsen. Der Mittwoch war ein schwerer Rückschlag für dieses Bemühen.

"Handelsblatt"

Vor zwei Monaten hatte er die absolute Mehrheit für die Union verloren, der erste Einbruch. Und jetzt diese demütigende Demonstration: Seine Autorität schwindet so sehr, dass in beiden Wahlgängen mindestens sechs Abgeordnete aus der Regierungskoalition ihm die Stimme verweigert haben. Doch, viel schlimmer noch, die NPD hat nach dem Einzug ins Parlament gestern ihre zweite Triumphrunde gedreht. Während Milbradt Stimmen fehlten, konnte sie mehr Voten zusammenklauben, als sie Abgeordnete hat. Ein böses Omen für die große Koalition in Sachsen ist dies. Solche demokratischen Notgemeinschaften stärken ohnehin die Ränder. Doch in Dresden kommen zwei Unmutige zusammen, die wenig nur gemein haben. Schwer, sehr schwer nur wird der zum zweiten Mal angezählte Milbradt die vielen Unberatenen in Sachsen, die bereits rechts und rechtsradikal wählten, zur parlamentarischen Demokratie bekehren. Bei der Bekanntgabe der Ergebnisse des ersten Wahlgangs reckten die NPD-Abgeordneten bereits die Hände in die Luft.

"Bild"-Zeitung"

Das war ein schwarzer Tag für Sachsens Ministerpräsidenten Milbradt - und ein rabenschwarzer für die Demokratie. Wenn ein Landes-Chef nicht im ersten Anlauf von einer satten Koalitionsmehrheit gewählt wird, ist das ärgerlich - vor allem für den Betroffenen. Viel schlimmer aber wiegt, dass mindestens zwei Abgeordnete von Union, SPD, PDS, FDP oder Grünen den Kandidaten der rechtsradikalen NPD gewählt haben. Und zwar in zwei Wahlgängen! Das war kein Ausrutscher, sondern kühle Strategie, um der schwarz-roten Koalition in Sachsen zu schaden. Schlimm genug, wenn die Ewiggestrigen in die Parlamente einziehen. Aber wenn sie dann auch noch von Abgeordneten aus anderen Parteien heimlich unterstützt werden, ist das eine Schande.

"Leipziger Volkszeitung"

Der Eklat wirft ein Schlaglicht auf die innere Verfassung der Union in Sachsen. Setzte die Parteiführung nach der Wahlniederlage im September noch auf das Motto "Augen zu und durch", so hat sich das jetzt erledigt. Der innere Erosionsprozess hat längst Georg Milbradt selbst erreicht. Das wird die kommenden Jahre prägen. Denn was da immer wieder aufzukeimen droht, ist nicht anderes als eine Neuauflage des alten Streits mit Biedenkopf. Bekam Milbradt mit dem Verlust der absoluten Mehrheit einen herben Dämpfer, so ist er seit gestern auf Raten demontiert - ein Ministerpräsident auf Abruf.

"Ostsee-Zeitung"

Mag sein, dass ihm einige Abgeordnete aus den eigenen Reihen einen Denkzettel verpassen wollten, weil Milbradt die Partei nicht hätschelte. Mag sein, dass SPD-Parlamentarier auf diese Weise ihren Protest gegen die Koalition mit einer CDU, die bislang nur Hohn und Spott für ihre Partei übrig hatte, ausdrücken wollten. Egal - mit solch einem Bündnis des Misstrauens, das einen politischen Skandal bewusst provoziert, ist kein Staat zu machen. Milbradt wird nun erstmal beweisen müssen, dass er das Steuer dieser Regierung wirklich in der Hand hält.

"Neues Deutschland"

Wenn Politiker einer demokratischen Partei aus purer Taktik jede Scham verlieren, helfen sie, eine Partei hoffähig zu machen, die eben jene Demokratie abschaffen will. Sie stärken die NPD in den Augen von Wählern, die dieser womöglich eher aus Taktik denn aus Überzeugung ihre Stimme gaben. Wenn sich Politiker so fahrlässig verhalten, führen sie nicht nur alle Bemühungen ad absurdum, rechtsextreme Gedanken einzudämmen. Sie nehmen auch einen Machtverlust in Kauf, der bösere Folgen haben könnte als ein Koalitionsvertrag.

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