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Pressestimmen zum Köhler-Rücktritt Der "Absteiger des Jahres" stürzt sich selbst

"Einmalig", "Respektlos", "Amtsbeschädigung": Horst Köhler erntet für seinen Rücktritt harsche Kritik in den Zeitungen. Kommentatoren sehen in seinem Rückzug auch ein Zeichen für die massiven Schwächen der schwarz-gelben Koalition. SPIEGEL ONLINE gibt einen Überblick über die Pressestimmen.

"Frankfurter Allgemeine": "Köhlers Rücktritt trifft die Republik und insbesondere die Bundesregierung sowie deren tragende Säulen CDU, CSU und FDP in einer Zeit der Schwäche: Von der Euro-Krise bis zu den Verwerfungen des Regierungsprogramms und weiter zu den personellen Entscheidungen in Nordrhein-Westfalen und Hessen - nirgends gibt es Stabilität und Sicherheit, überall ist alles so stark im Fluss wie an der Oder. Halten die Deiche, die Schwarz und Gelb um ihre Macht vor gar nicht langer Zeit errichtet zu haben glaubten - wozu auch die Wiederwahl 'ihres' Bundespräsidenten Köhler gehört hatte? Wahrscheinlich ist nur eins: Die Berufspolitiker aller Parteien werden so schnell nicht noch einmal den Versuch mit einem Quereinsteiger im (partei-)politischen, auch parlamentarischen Sinne wagen."

"Bild"-Zeitung: "Das war kein Rücktritt. Da hat einer beleidigt die Brocken hingeschmissen… 'Verantwortungslos' würde man einem normalen Arbeitnehmer bei solchem Verhalten ins Zeugnis schreiben. Die Begründung Horst Köhlers für diesen historisch einmaligen Schritt ist nicht nachzuvollziehen… Die Gründe für Köhlers Schritt liegen sicher tiefer und sind sehr menschlicher Natur. Der Bundespräsident war dünnhäutig geworden. Zu oft verhallte seine Stimme fast ungehört. Das große Thema seiner 2. Amtszeit? Die verzweifelte Suche danach war noch voll im Gange. Jetzt ist Horst Köhler weg und die Scherben liegen - mal wieder - vor den Füßen der Kanzlerin."

"Welt": "Dieses politische Ende hat Horst Köhler nicht verdient. Tief verletzt hat er sein Amt dahingeworfen, sich selbst vom Hof gejagt. Mit Leib und Seele wollte er Bundespräsident aller Deutschen sein, hat mit steter Neugier das Land bereist - und musste am Ende erkennen, dass er am falschen Ort saß... Vielleicht wird das politische Berlin durch diesen Schadensfall klüger. Jetzt bitte keine Notlösung, keine Versorgungslösung, kein Wegloben und kein Versuch, nach einem willfährigen Kandidaten Ausschau zu halten. Wie wäre es mit Joachim Gauck, einem Mann, der aus dem Osten kommt und der jenen Geist der Freiheit gut verkörpert, dem sich die Bundesregierung ausweislich des Koalitionsvertrages doch irgendwie verpflichtet fühlt?"

"tageszeitung": "Der Rücktritt von Horst Köhler macht plastisch, in was für einem zerrütteten Zustand sich die Regierung befindet. Wenn zum zweiten Mal in der bundesdeutschen Geschichte ein Präsident hinschmeißt, geht es nicht allein um die Frage, ob Köhler die Kritik an seinen Äußerungen zum Krieg unangemessen fand. Denn diese Begründung wirkt allzu beleidigt, sie überzeugt nicht. (...) Wofür also steht dieser Rücktritt? Zunächst drückt sich in ihm Köhlers emotionale, nahezu unpolitische Haltung zum - zumindest nominell - höchsten Amt im Staate aus. (...) Anstatt sich zu positionieren, wirft Köhler hin. Dieser mangelnde Respekt vor dem Amt, um mit Köhler zu sprechen, ist einer der Gründe dafür, dass einen der Rücktritt fassungslos zurücklässt."

"Süddeutsche Zeitung": "… Nun hat er sich selbst gestürzt. Er wird in die Geschichte eingehen als der Bundespräsident, der zurückgetreten ist. Sein Nachfolger sollte nun einer werden, der anders als Roland Koch Politik durchaus als fast alles sieht und der anders als Horst Köhler sich nicht für das Amt hält. Man möchte einen erfahrenen, klugen Politiker mit Haltung und Mut zum Widerspruch, der bleibt, auch wenn es schwierig wird. Es gibt einen solchen Mann, der endlich wählbar sein sollte für Schwarz und Gelb und sogar für etliche aus den anderen Parteien. Er heißt immer noch Wolfgang Schäuble."

"Tagesspiegel": "Deutschland erlebt somit eine vierfache Einmaligkeit. Erstens: Nie ist eine Bundesregierung schlechter gestartet und auch nicht besser geworden über die Monate. Das Land wird unter seiner Bedeutung regiert. Zweitens: Nie war Deutschland, an der Spitze seine Kanzlerin, isolierter und schlechter angesehen, was seine Positionen und seine Stellung in Europa betrifft. (...) Drittens: Nie war ein Außenminister und Vizekanzler einflussloser und zugleich unbeliebter. Dazu kommt nun viertens der so noch nie dagewesene Rücktritt eines Bundespräsidenten. Deutschland wirkt destabilisiert - ausgerechnet in der größten Krise seit 60 Jahren (...)."

"Rhein-Neckar-Zeitung": "Interessanterweise hat Köhler erst mit seinem Rücktritt etwas bewegt. Er könnte damit der ohnehin schon angeschlagenen schwarz-gelben Koalition einen weiteren schweren Schlag zufügen. Sozusagen eine Rache dafür, dass ihn die Merkels und Westerwelles nicht ausreichend in Schutz genommen hatten. Doch ist das noch mit der Würde des Amtes zusammenzubringen? Wie man den Rücktritt Köhlers auch wendet: Etwas Gutes ist ihm einfach nicht abzuringen."

"Leipziger Volkszeitung": "Was für eine Karriere! Vom unbekannten 'Horst wer?' über den bürgernahen und beliebten 'Super-Horst' zum Aussteiger, wenn nicht gar Absteiger des Jahres. Bei allem Verständnis für Horst Köhlers Verärgerung über die zum Teil maß- und haltlose Kritik an (...) Äußerungen zu Auslandseinsätzen der Bundeswehr und über die mangelnde Schützenhilfe der Kanzlerin: So tritt man nicht zurück als Bundespräsident. (...) Damit schützt man nicht das höchste Staatsamt, sondern beschädigt es. Pflichtgefühl und Staatsräson hätten in Köhler über den aufgestauten präsidialen Frust siegen müssen. Sein Verantwortungsgefühl hätte ihm signalisieren müssen, dass er Deutschland mitten in der Wirtschafts- und Eurokrise nicht auch noch durch Amtsflucht eine Demokratiekrise bescheren darf."

"Thüringer Allgemeine": "Der Rücktritt Horst Köhlers vom höchsten Staatsamt ist überzogen und respektlos. Nur ein Jahr nach seiner Wiederwahl wirft der Bundespräsident hin. Als Grund liefert er seinem Volk das Getöse einer Handvoll Oppositionspolitiker, die ihn um Klarstellung in einer an Polemik kaum zu übertreffenden Frage gebeten haben: Ob er, Köhler, im Auftrag der Wirtschaft und außerhalb des Grundgesetzes als Kriegstreiber unterwegs sei? (...) Einen Rücktrittsgrund lieferten Trittin und Co. dem Präsidenten nicht. Die Kritiker hätten den notwendigen Respekt vor seinem Amt vermissen lassen. Köhlers überraschende Reaktion allerdings lässt es an Respekt vor denen mangeln, die ihn in dieses Amt gewählt hatten. Und vor denen, die ihn dort gerne sahen."

"Lübecker Nachrichten": "Vielleicht jedoch ist etwas anderes genau so wichtig gewesen für Köhlers Schritt: die seit geraumer Zeit zu beobachtende Entfremdung zwischen dem einst von Schwarz-Gelb ins Amt gewählten Präsidenten und der Regierung. Die Kluft zwischen Kanzleramt und Schloss Bellevue ist zuletzt immer größer geworden. Köhler war über den holprigen Start der bürgerlichen Koalition höchst verärgert und er hat in dieser Frage aus seinem Herzen keine Mördergrube gemacht. (...) Der Rücktritt Köhlers ist nach dem angekündigten Rückzug von Roland Koch vor einer Woche ein weiterer herber Verlust für die Kanzlerin. Ausgerechnet in den turbulenten Zeiten der Finanz- und Euro-Krise sowie des Sparzwanges geht einer von Bord, der von der Sache etwas versteht. Es wird langsam einsam um Angela Merkel."

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Horst Köhler: Einsamer Bürgerkönig

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"Stuttgarter Zeitung": "Köhler, dem bei seinem Amtsantritt ein Ruf als hölzerner Technokrat vorauseilte, war bei denen, die ihn persönlich erlebt haben, sehr beliebt. Mit seiner unprätentiösen, offenen und verletzlichen Art fand er auch bei schwierigsten Anlässen - etwa bei der bewegenden Gedenkrede auf der Trauerfeier für die Opfer des Amoklaufs in Winnenden - den richtigen Ton. Vermutlich ist seine Empfindlichkeit auch der Schlüssel zu seinem Rücktritt: Die Kritik ging ihm vermutlich näher als jenen gestandenen Politikern, die ihn ins Amt gewählt haben. Das ändert aber nichts an dem Befund, dass Köhler als ein unvollendeter Präsident in die Annalen der Bundesrepublik eingeht."

"Märkische Oderzeitung": "Horst Köhler war einer der schwächsten Bundespräsidenten. Manche populistische Äußerung verhalf ihm zu vordergründiger Beliebtheit, aber Spuren hat er nicht hinterlassen. Seine Präsidentschaft war das erste Projekt von Angela Merkel und Guido Westerwelle in Oppositionszeiten, wie ein Menetekel kracht es ihnen gerade jetzt vor die Füße. Dieser fristlose Rücktritt eines Bundespräsidenten wird zumindest dafür sorgen, dass Köhler als Premiere in den Geschichtsbüchern verankert sein wird. (...) So, wie er abging, hat der ehemalige Sparkassendirektor das höchste politische Amt selbst am stärksten beschädigt."

"Neue Zürcher Zeitung": "Auch ein deutscher Bundespräsident agiert nicht im politikfreien Raum. Sein Amt ist eine Verpflichtung, und wer dieser nicht mit einem Mindestmaß an Resonanz nachkommt, wird sich nicht wundern müssen, wenn er mit der Zeit in das Räderwerk des parteipolitischen Dauerstreits gerät. Genau dies ist Horst Köhler passiert. Seine Gegner mögen kleingeistig, streitsüchtig und durchsichtig agiert haben. Aber im Wesentlichen liegt der Fehler bei ihm selber. Erst die Zeit wird zeigen, weshalb es Horst Köhler nach einem guten Start nicht gelang, mehr Durchhaltevermögen an den Tag zu legen. Dafür wird man vielleicht Gründe finden. Der Rücktritt hingegen mag ein Rätsel bleiben. Schade um die Person. Aber auch schade um das Amt."

"Rzeczpospolita" (Polen): "Horst Köhler hat die vernichtende Kritik nicht ausgehalten. Er hat sich wie der Chef einer Wirtschafts- oder Finanzinstitution benommen. Damit bewies er, dass er die Kompliziertheit der Politik nicht verstand, dass er sich in der Politik verloren fühlte. Er hat das Amt in einer Zeit verlassen, in der sich das Schicksal des Euro und die Zukunft der Währungsunion entscheidet. Bei dieser Gelegenheit zeigte er eine bisher unbekannte Charaktereigenschaft: Er konnte mit der Kritik, ohne die es keine Demokratie gibt, nicht umgehen. (...) Köhlers Ziel war es, das höchste Staatsamt würdig auszuüben. Das ist aber keine Aufgabe für Überempfindliche."

"Die Presse" (Wien): "Nein, Horst Köhler ist kein Mann des Wortes. Und so war sein Abtritt symptomatisch für die sechs Jahre, die er versucht hatte, sich im Amt des deutschen Staatsoberhaupts zurechtzufinden. (...) Der große Bonus des einstigen IWF-Chefs war auch sein größtes Handicap: Er kam nicht aus der aktiven Politik. Das verlieh ihm Frische und Glaubwürdigkeit. Von der Notwendigkeit, in politischen Kategorien zu denken, entbindet es nicht. (...) Dass er nun wegen der Kritik zurücktritt, ist irgendwie absurd, zumal er in sechs Jahren - etwa von Gerhard Schröders SPD - schon kräftigere Hiebe ausgehalten hat. Doch er hält das Amt für beschädigt. Welcher österreichische Politiker würde wohl zurücktreten, wenn sein Amt tatsächlich beschädigt wäre? Wo hier zu wenig Sensibilität herrscht, herrscht in Deutschland zu viel Dünnhäutigkeit."

als/dpa
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