
Anspruchsdenken in der Pandemie Gilt für alle, nicht für mich


Mit Helge Schneider habe ich nie viel anfangen können. Ich hatte aber auch nichts gegen ihn – was er tat, interessierte mich einfach nicht. Umso mehr war ich selbst erstaunt, wie wütend ich war, als ich las, dass er vor einigen Tagen ein Konzert abgebrochen hat, weil er in einem Setting mit Sicherheitsabständen und laufendem Gastronomiebetrieb keine Verbindung zu seinem Publikum aufbauen konnte. Wie Schneider erklärte.
Gegen Boris Johnson und seine Politik habe ich einiges einzuwenden. Aber kaum etwas hat mich so erbittert wie seine Ankündigung, er und sein Finanzminister Rishi Sunak würden sich nicht in Quarantäne begeben, nachdem sie Kontakt mit dem an Covid-19 erkrankten Gesundheitsminister gehabt hatten. Sie nähmen nämlich an einem Pilotprojekt teil, das es ihnen erlaubte, sich täglich auf das Virus testen zu lassen. Tatsächlich?
Johnson zog sich dann doch noch auf seinen Landsitz zurück. Die Empörung der Öffentlichkeit war zu groß, als dass er seine Linie hätte durchhalten können. Was hatte der Mann denn erwartet? Tausende und Abertausende Briten mussten sich zehn Tage lang in häusliche Quarantäne begeben, weil ihnen jemand über den Weg gelaufen war, der oder die positiv auf Corona getestet worden war. Die Folge: Versorgungsengpässe, Arbeitskräftemangel, Probleme im Transportwesen – alles so dramatisch, dass die Regeln inzwischen wieder gelockert wurden. Und ausgerechnet auf dem Höhepunkt, als die Leute im Supermarkt vor leeren Regalen standen, verkündet der Premierminister, für ihn genüge ein täglicher Test. Wie weit entfernt von der Lebenswirklichkeit der Menschen, die man regiert, kann man sein?
Helge Schneider und Boris Johnson haben vermutlich nicht besonders viel gemeinsam – abgesehen von einem Selbstbild, das besagt, es könne von ihnen nicht verlangt werden, sich mit denselben Widrigkeiten herumzuschlagen, wie die breite Masse das notgedrungen tun muss. Selbstverständlich ist ein Auftritt unter Coronabedingungen für einen Künstler besonders schwierig, der für seine Art der Darbietung in besonderer Weise auf das Zusammenspiel mit dem Publikum angewiesen ist. Da gibt's nur eins: Die Vorstellung mit Anstand zu Ende bringen und eine Lehre für die Zukunft daraus ziehen.
Schwer erträgliche Anspruchshaltung
Vielleicht saßen nämlich unter den Gästen einige Lehrer oder Therapeutinnen, deren Berufsalltag durch die Seuche auch nicht leichter geworden ist. Die aber dennoch im Regelfall nicht einfach mit dem Hinweis hinschmeißen können, sie hätten unter diesen Umständen einfach keine Lust mehr auf Unterricht oder Therapiestunden. Auch möglicherweise anwesendes Pflegepersonal, das sich seit Wochen auf den Auftritt gefreut hatte, möge sich – bitte, bitte – kein Beispiel an dem Künstler nehmen.
Die Anspruchshaltung, die Boris Johnson und Helge Schneider verkörpern, ist nur schwer erträglich. Letztlich scheinen beide davon überzeugt zu sein, dass die Welt ihnen etwas schulde, weil sie oder zumindest ihre Tätigkeiten bedeutend genug seien für Sonderregelungen. Sorry, aber so funktioniert die Bekämpfung einer Pandemie nicht. Wenn sich in der breiten Öffentlichkeit der Eindruck verfestigt, dass manche gleicher sind als gleich, dann ist es nur eine Frage der Zeit, bis alle privilegiert sein wollen und sich an die Regeln nicht mehr halten möchten.
Ja, aber geht es nicht genau darum auch bei der Diskussion über eine – möglicherweise durch die Hintertür eingeführte – Impfpflicht? Um Privilegien also? Nein, das tut es nicht. Grundrechte sind kein Privileg, die es als Belohnung für Wohlverhalten gibt, sondern ein Anspruch jeder Bürgerin und jedes Bürgers. Es bedarf sehr guter Gründe, um sie in Ausnahmesituationen für einen beschränkten Zeitraum zu entziehen.
Grundrechte sind Abwehrrechte gegenüber dem Staat, sie regeln nicht das gesellschaftliche Miteinander. Es ist deshalb widersinnig, wenn ausgerechnet der Staat diese Rechte an ein Verhalten knüpft, das er sich von der Bevölkerung wünscht. Genau danach hört es sich aber an, wenn Kanzleramtsminister Helge Braun erklärt, Geimpfte würden künftig »definitiv« mehr Freiheiten haben als Ungeimpfte. Um sodann die Vorteile einer Impfung zu loben und zu preisen.
Ich selbst bin zweimal geimpft und halte es für unsolidarisch, wenn sich jemand ohne medizinische Gründe – zu denen allerdings auch Angstzustände gehören können – nicht impfen lässt. Aber was ich denke oder was Helge Braun meint, kann nicht die Voraussetzung für den Entzug von Grundrechten sein. Dafür bedarf es klarer, eindeutiger Tatsachen. Eine hohe Zahl falscher Negativtests ist in der Tat ein überzeugendes Argument dafür, Geimpfte und Getestete nicht länger gleichzusetzen. Aber gerade dann muss jeder Eindruck vermieden werden, moralische Kategorien spielten in die Entscheidung hinein, und diese habe etwas mit Lohn oder Strafe zu tun. Anders ausgedrückt: Keine Privilegien, für niemanden, wenn es darum geht, die Seuche zu besiegen.