Protestaktion in Berlin Einmal Menü mit Sozialneid, bitte
Berlin - Sie hätten sich natürlich auch eine der Berliner Eckkneipen aussuchen können, wo die Bulette mit Senf einen Euro kostet. Oder einen der vielen Thais und Vietnamesen, die ein leckeres Mittagsmenü für drei bis fünf Euro anbieten. Aber klar, die Aktivisten der linken Wahlalternative Soziale Gerechtigkeit (WASG), die auch Gregor Gysi und Oskar Lafontaine so viel Freude bereitet, entschieden sich fürs "Borchardt": das gehobene Restaurant am Berliner Gendarmenmarkt. Dort fühlen sich Filmstars wie Mario Adorf und Dustin Hoffman genauso wohl wie Gerhard Schröder und Thomas Gottschalk, von den ungezählten Journalisten zu schweigen, die dort gerne ihre investigativen Gespräche führen.
Das "Borchardt" signalisiert Glamour, Urbanität und bürgerlichen Wohlstand und ist deshalb das vermeintlich richtige Symbol einer antikapitalistischen politischen Protestaktion - so kurz vor der Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus am Sonntag. Man wolle endlich "auch einmal wie die Reichen essen", hatte die junge umtriebige Berliner WASG-Vorsitzende Lucy Redler angekündigt, und so sollten Hartz-IV-Empfänger für heute Mittag ins feine "Borchardt" eingeladen werden, ohne die Rechnung begleichen zu müssen. Die wollte man dem Finanzsenator Thilo Sarrazin (SPD) schicken, der als größter Übeltäter beim "Sozialabbau" gilt.
Die zarte Ankündigung einer organisierten Zechprellerei löste beim "Borchardt" keine echte Begeisterung aus. Stattdessen erwirkte man per Anwalt eine einstweilige Verfügung - mit einer Strafandrohung von 250.000 Euro, um zu verhindern, dass Arbeitslosengeld-II-Empfänger sich das Wiener Schnitzel mit lauwarmem Kartoffelsalat kollektiv "für lau" in den Bauch schlagen. Auch ein letztes "Kompromissangebot" der WASG, im Zweifel die Rechnung selbst zu übernehmen, wurde ausgeschlagen.
Zwei Mitarbeiter, eine Botschaft: Heute nur für Stammgäste
So versammelten sich heute kurz vor zwölf Uhr mehr als 30 Journalisten, darunter mehrere Fernsehteams von RTL, n-tv und rbb, Radioreporter und ein gutes Dutzend Fotografen, außerdem mehrere Einsatzwagen der Polizei, ein Rettungswagen und knapp 20 Demonstrationsteilnehmer vor der Tür des "Borchardt". Dort hatten sich zwei Mitarbeiter gut sichtbar postiert, um noch einmal klar zu machen, dass an diesem Tag nur Stammgäste mit Reservierung das Lokal betreten können.
Dabei war die Parole des Protest-Flyers der WASG durchaus missverständlich: "Wir holen den Kaviar aus dem roten Rathaus!", stand da ganz oben. Aus dem Rathaus? Sollte die WASG der CDU auf den ideologischen Leim gegangen sein, die in ihren Wahlkampfspots suggeriert, Klaus Wowereit trinke an seinem Schreibtisch Schampus aus roten Pumps und verzehre kiloweise Kaviar, während er stundenlang mit Thomas Gottschalk in Hollywood telefoniere?
Doch schon ein weiterer Satz genügt, um zu erkennen, dass die WASG fest auf der Grundlage einer eigenen, historisch-materialistisch fundierten Analyse der globalen Zusammenhänge steht: "Es sind die Vermögenden, die Einkommensmillionäre, Manager und Politiker, die vom neoliberalen Wahn weltweit profitieren. Sie werden nicht müde an den Büffets der Luxushotels, auf Tagungen und Gipfeltreffen in gediegenem Ambiente über die Notwendigkeit des Sparens zu schwadronieren."
Die WASG-Chefin könnte gut selbst an Luxusbüffets stehen
Im Minutentakt gab Lucy Redler vor dem "Borchardt" Interviews, um die "wachsende Kluft zwischen Arm und Reich" anzuprangern, die "Umverteilung von unten nach oben", die unsoziale Sparpolitik des rot-roten Senats und die allgemeine Lohndrückerei im Namen des "Neoliberalismus". Sie macht das derart professionell, dass man sie sich schon in wenigen Jahren als Pressesprecherin eines großen Konzerns oder einer internationalen Institution vorstellen kann. Nicht zuletzt am Büffet eines Luxushotels.
Als kleine Geste des guten Willens verteilten die "Borchardt"-Leute Visitenkarten an Arbeitssuchende: Ein Job sei gerade frei. "Zahlen Sie auch Tariflohn?", rief laut und höhnisch ein Mann, der natürlich schon ahnte, dass die vermeintlichen Blutsauger des Edelrestaurants nur Hungerlöhne vergeben. Und wahrscheinlich lassen sie die Leute im Heizungskeller übernachten.
Als die ersten üblichen Mittagsgäste, spärlich genug, ganz friedlich ins Restaurant geleitet wurden, war schon klar, dass die Revolution wieder einmal ausbleiben würde. Stattdessen luden die WASGler, deren Wahlkampfteam ganz in Orange gekleidet auftrat, per Megaphon auf die andere Straßenseite, direkt vor die "Galeries Lafayette". Auch kein Armenhaus.
Und dann ist auch noch der Schampus nicht echt
"Champagner für alle" sollte es geben, dazu leckere Vorspeisen mit Kaviar und anderen Schikanen. Noch bevor einer der gerade mal zehn echten Betroffenen (teils mehrere Jahre arbeitslos)sagen konnte: "Ick mag keen Kaviar!", brachte ein WASG-Funktionär die entscheidende und durchaus sympathische Parole aus: "Auf ein anderes, schöneres Leben!" Und hoch die Becher.
Doch während die Kamerateams, alle Bilder vom Abgrund zwischen Arm und Reich im Kasten, den Ort des Geschehens verließen und einige Hungrige die recht schütter belegten Baguettescheiben verdrückten, stellte sich wieder einmal heraus, dass das Leben ein einziger Betrug ist: Der großspurig annoncierte Champagner erwies sich als gewöhnlicher Prosecco, der im Plastikbecher serviert wurde.
Das zumindest hätte Oskar Lafontaine niemals zugelassen.