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Proteste: Rentner auf den Straßen

Foto: Bernd Weissbrod/ dpa

Rebellische Rentner Aufstand der Silberköpfe

Der Protest gegen Stuttgart 21 wird auch von Rentnern getragen, bei Atomkraftdemos tummeln sich viele Grau- und Weißhaarige. Bringt der demografische Wandel eine neue Protestkultur, einen Aufstand der Alten?

Berlin - Im Hintergrund stehen Polizisten. Eine Frau weint: "Ich komm mir vor wie im Krieg, ich habe den Krieg noch erlebt", schluchzt sie. Die Grauhaarige, die Reportern ein Interview gibt, ist empört: "Den Bürgern soll eine Lektion erteilt werden: Ihr habt nichts zu sagen!"

Eine Gruppe Rentner hat sich um einen Baum geschart. Geübt wird der friedliche Protest und das Verhalten bei Sitzblockaden. "Wenn Sie in einer guten Spannung sind, dann kann es Ihnen nicht passieren, dass Sie sich beim Abtransport wehtun", sagt die Trainerin. Die Szene soll möglichst echt nachgespielt werden: "Sie renitente Alte!", ruft ein Mann, der einen Polizisten mimt, einer Weißhaarigen zu und trägt sie schließlich - die alte Dame in der Hocke - davon.

der Proteste gegen den Bahnhofsumbau.

Das alles sind Szenen, die sich in Stuttgart abspielten - am Rande Unter die Schüler, Studenten und jungen Familien mischten sich viele grau- und weißhaarige Menschen. Der Rentner, der durch den Polizeieinsatz von Wasserwerfern auf einem Auge dauerhaft erblindet ist, wurde zum Sinnbild der Protestbewegung.

gegen die Atomkraft,

Aber gibt es wirklich einen neuen Aufstand der Alten - in Stuttgart, gegen Muslime in Deutschland?

Der Hippie von gestern ist der Opa von heute

Darüber wird heftig diskutiert. SPIEGEL-Autor Dirk Kurbjuweit schreibt in seinem Essay "Der Wutbürger" von "Vorboten der demografisch gewandelten Gesellschaft". "Die Wutbürger sind zu einem großen Teil ältere Menschen, und wer alt ist, denkt wenig an die Zukunft." Den wütenden Alten blieben noch zehn, zwanzig Jahre, die wollten sie angenehm verbringen, was verständlich sei. "Wer alt ist, hat auch mehr Angst, Angst vor Neuem, Fremdem. Das Bestehende soll bleiben, weil es vertraut ist, weil es ohne Lernen bewältigt werden kann. Und der Angstbürger wird leicht ein Wutbürger, der sich gegen alle wendet, die anders leben, anders aussehen, anders glauben."

Der Journalist Hans-Ulrich Jörges diagnostiziert im "Stern" unter dem Titel "Die Methusalem-Revolte" eine historisch "noch nie erlebte Rolle der Alten". Die Alten bedienten sich bei ihrem Widerstand gegen Veränderungen dem Mittel, das einst ganz den Jungen gehörte: dem "sichtbarem, aufwühlendem Protest".

Stimmt diese These? Fest steht: Die Gesellschaft wird immer älter:

  • 1957 mussten 100 Erwerbstätige für 17 Rentner sorgen.
  • Im Jahr 2005 kamen auf 100 Menschen im erwerbstätigen Alter 32 über 65-Jährige.
  • 2030 wird das Verhältnis Berechnungen zufolge 100 zu 52 betragen.

Nach einer Bertelsmann-Studie wird sich die Zahl der 19- bis 24-Jährigen in den neuen Bundesländern bis 2015 halbieren. Die Zahl der Arbeitnehmer unter 45 Jahren sinkt demnach bis 2025 um knapp fünf Millionen. Die Gruppe der älteren Erwerbstätigen wächst dagegen um 1,4 Millionen.

Dass man im Durchschnitt mehr Alte sieht, ist also nur logisch.

Außerdem: Viele Ältere heute sind in einer anderen Protestkultur aufgewachsen als ihre Eltern. Der Hippie von gestern ist der Opa von heute. Während Senioren Protest gegen die Obrigkeit früher noch für eine Art Landesverrat hielten, ist die Großeltern-Generation von heute unverkrampft rebellisch.

Wo es darum geht, etwas zu bewahren, demonstrieren die Rentner

Aber müssen wir uns auf eine neue Revolte einstellen? Sind Deutschlands Senioren künftig nicht nur die Hauptzielgruppe der Werber, die Adressaten der Parteien im Wahlkampf, sondern auch die einzigen Rebellen der Republik?

Wissenschaftler bezweifeln das - sehen aber ein größeres gesellschaftliches Engagement der Senioren. "Heute schalten sich grundsätzlich ältere Menschen mehr in das gesellschaftliche Geschehen ein", sagt der Berliner Protestforscher Dieter Rucht. "Menschen sind heute länger fit, gesünder, vitaler und gehen vielleicht auch eher in den Ruhestand. Sie haben Zeit, und sie fühlen sich von gesellschaftlichen Veränderungen stärker betroffen als früher." Sie wollten nicht nur im Altersheim sitzen, basteln und Walzer tanzen, so Professor Rucht.

"Insbesondere wenn es darum geht, etwas zu bewahren, sind viele Rentner bei Demonstrationen - sei es eben in Stuttgart oder woanders, bei Konflikten um Flughafenausbau oder Naturschutz", erklärt Rucht. Die Proteste gegen Atomkraft seien etwas Besonderes, weil dort viele ältere Leute demonstrierten, die bei diesem Thema schon vor 30 Jahren dabei waren. "Die sagen sich jetzt: Es kann doch nicht sein, dass unsere damaligen Proteste vergeblich waren."

Und auch grundsätzlich hat sich die Kultur des gesellschaftlichen Widerstands geändert, meint Rucht: "Ältere Menschen, selbst wenn sie in ihrer Jugend gar nicht politisch aktiv waren, nehmen wie die Bevölkerung insgesamt Proteste zunehmend als Teil politischer Normalität wahr. Somit haben sie vermutlich auch weniger Hemmungen, sich daran zu beteiligen."

"Die Älteren fallen einfach mehr auf"

Für viele kommt das Engagement der Älteren überraschend, meint Klaus Schömann, Professor für Soziologie am "Jacobs Zentrum für lebenslanges Lernen": "Die Demokratie war wenig darauf vorbereitet, dass jetzt die jungen Alten kommen und sich einmischen." Und der Protest der Senioren sei keineswegs egoistisch. "Mit dem Älterwerden entwickelt sich oft eine längerfristige Perspektive - die Rentner wollen etwas Bleibendes schaffen und an nachfolgende Generationen weitergeben", so der Forscher.

Manch junger Mensch ist von dem Elan seiner Eltern überrascht. Die 29-jährige Berlinerin Lisa Kemmer* wollte einen Besuch bei ihren Eltern in Lüneburg planen. Aber die hatten keine Zeit. "Wir müssen wieder demonstrieren gehen", sagte ihre Mutter. Denn im Wendland wartet der Widerstand.

In Schwaben haben sich "Senioren gegen Stuttgart 21" zusammengeschlossen. Sie schreiben in einem Brief an die Bahn: "Uns drängt sich der Eindruck auf, das Sie nicht gewillt sind, sich an rechtsstaatliche Normen und Regeln zu halten, diese bewusst missachten oder mit deren Einhaltung überfordert sind. Wir werden immer wieder kommen, bis Sie der Öffentlichkeit erschöpfend Auskunft gegeben haben. Mit freundlichen Grüßen, die Senioren gegen Stuttgart 21."

Es ist der höfliche Duktus der Wut der Älteren.

Empörungskultur ist keine Ausnahme, sondern die Regel

Der Zukunftsforscher Matthias Horx hält dagegen die These vom Aufstand der Alten für übertrieben. "Es sind vielleicht einfach etwas weniger junge Menschen auf der Straße, als in den politisch sehr bewegten sechziger und siebziger Jahren - deshalb fallen die Älteren mehr auf". Aus seinem eigenen Protesterleben könne er sich daran erinnern, dass auch in Brokdorf, Gorleben und Whyl die Demonstrationen generationenübergreifend waren. "Und auch die Grünen sind schließlich dadurch stark geworden, dass sie sich ein paar Grauköpfe in die Reihen geholt haben", so Horx.

Es handle sich nach seinem Eindruck in Stuttgart auch nicht um alte Menschen, die viel Protesterfahrung hatten und etwa in den sechziger Jahren ständig auf die Straße gingen. "Das ist eher ein sehr gemischter Protest, der darauf hinweist, dass Empörungskultur heute keine Ausnahme, sondern die Regel ist."

In Stuttgart jedenfalls verstehen sich die Protestler als breite Bürgerbewegung. Als die Demonstrationen Ende September eskalierten, waren auch Schüler unter den Verletzten. Und bei den Menschenketten am Atomkraftwerk Krümmel standen junge Väter und Mütter mit ihren Kinderwagen.

Horx warnt davor, die Proteste gegen Stuttgart 21 mit der Sarrazin-Debatte in einen Topf zu werfen. In Sachen Sarrazin "wurden hingegen eher die alten, dumpfen Instinkte bedient, die wahrscheinlich hierzulande immer eine bestimmte Kundschaft finden werden".

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