Rechte Gewalt im Osten Der alltägliche Einzelfall

Der Angriff auf den Deutsch-Afrikaner Ermyas M. in Potsdam erschüttert die Republik. Doch CDU-Politiker sprechen von einem Einzelfall. Die Zahlen über Überfälle mit rassistischem Hintergrund widersprechen der Darstellung. Mittlerweile sind rechte Gewalttaten in Ostdeutschland Normalität.
Von Matthias Gebauer und Jens Todt

Berlin - Jörg Schönbohm, sonst in Sachen Sicherheit ein Mann der schnellen Entscheidungen, ist nach dem Fall in Potsdam fast bedächtig geworden. Voreilige Schlüsse zu ziehen sei sehr gefährlich. "Ich bin immer dafür, dass man Sachverhalte erst beurteilt, wenn man sie kennt. Wir kennen den Tathergang noch nicht", sagte Brandenburgs Innenminister der "Märkischen Allgemeinen Zeitung". Die Tat sei "abscheulich", und doch wolle er über Motive erst reden, wenn die Täter gefasst sind. Ganz sicher sei Brandenburg kein Hort für Nazis.

In die gleiche Kerbe schlug heute Schönbohms Parteifreund Wolfgang Schäuble. Der Bundesinnenminister legte Wert auf die Feststellung, dass es für eine Bewertung der Tat zu früh sei. "Wir wissen die Motive nicht, wir kennen die Täter nicht. Wir sollten ein wenig vorsichtig sein", sagte der CDU-Politiker im Deutschlandradio Kultur. Die Botschaft der beiden Unions-Politiker war damit klar: Erstmal abwarten und nicht überreagieren.

Hinter den beruhigenden Worten der Politiker steckt Kalkül: Während Schönbohm sein Land und ganz Ostdeutschland nur ungern als Spielwiese für rechte Gewalt-Banden dastehen lassen will, fürchtet Schäuble so kurz vor der Fußball-WM unangenehme Schlagzeilen im Ausland. Folglich halten es beide für angemessen, den Vorfall als tragischen - vor allem aber seltenen - Einzelfall zu bezeichnen. In der Woche, als die Tat von Potsdam geschah, wollte Schönbohm eigentlich ein anderes Thema erörtern: Für diesen Freitag wurde eine - seit längerem geplante - Pressekonferenz über die Sicherheitsmaßnahmen Brandenburgs zur WM anberaumt.

Die Sorge über ein Negativ-Image ist begründet. Schon jetzt leidet Potsdam unter den Schlagzeilen. Zuerst sagten Allgemeinmediziner aus ganz Deutschland eine für den Herbst geplante Tagung spontan ab. Einen Tag später meldete sich eine nigerianische Regierungsdelegation und stornierte ihren Aufenthalt in einem Potsdamer Hotel. Und in Polizeikreisen hieß es, während der WM könnten aufgrund der vielen Touristen aus dem Ausland ähnliche Fälle vielleicht wieder passieren.

Einzelfälle am laufenden Band

Gleichwohl erscheint die Einzellfall-Version fraglich. Auch wenn sich die Politik gern auf eine leicht sinkende Zahl von rechten Gewalttaten beruft, hat man sich für Ostdeutschland ganz offensichtlich an ein hohes Niveau rassistischer Gewalt gewöhnt. Mehr als 100 Menschen starben in den Jahren nach der Wende durch Gewalt von Ausländerfeinden. Mehr als 600 Übergriffe gab es 2005 - viele davon bekamen den Stempel des Einzelfalls.

Immer wieder ragen brutale Angriffe heraus, die überregional bekannt werden. So wie im Januar 2006, als Rechtsradikale den zwölfjährigen Sohn eines ägyptischen Vaters bei Magdeburg erst mit brennenden Zigaretten quälten und dann zwangen, ihre Stiefel zu lecken. Der Fall aus Sachsen-Anhalt erregte kurz die Republik und verschwand ebenso schnell aus den Schlagzeilen. Wieder einmal galt auch er als Einzelfall.

Aus einer ganzen Kette solcher Fälle ist für Strafverfolger und die Politik Normalität geworden. So sagte der Brandenburger Generalstaatsanwalts Erardo Rautenberg kürzlich, er habe mit solchen Delikten "immer wieder dienstlich" zu tun gehabt. Das Verhaltensmuster rechtsextremer Gewalttäter beschreibt der Jurist schonungslos als das "Eintreten oder Einschlagen auf wehrlose Andersartige mit dumpfer Vernichtungstendenz".

"Überfälle sind Normalität"

Das Verhalten nach dem Potsdamer Fall ist ein gutes Beispiel für den mittlerweile eingeübten Reflex der Verantwortlichen. Während die Potsdamer Staatsanwaltschaft und die Politik erneut von einem "extremen Einzelfall" sprechen, beklagt der Verein Opferperspektive eine Vielzahl von Übergriffen mit rechtem Hintergrund. Seit Januar zählte der Verein landesweit 24 ähnliche Vorfälle. "Überfälle sind im Grunde Normalität", so Nadja Hitzel-Abdelhamid.

Das Szenario für die Tage nach einem solchen Vorgang kennen die Mitglieder der Opferperspektive zu gut. "Es läuft immer gleich ab", sagt Hitzel-Abdelhamid, "entweder die Taten bekommen überhaupt keine mediale Aufmerksamkeit und geraten einfach in Vergessenheit". Oder in besonders schweren Fällen geht es anders - wenn auch nicht besser - aus: "Eine Woche lang sind alle ganz aufgeregt, bis die Empörung wieder verebbt."

Es sind Vorfälle wie jener am 19. Februar in Rathenow, bei dem ein 15-Jähriger Jugendlicher mit dunkler Hautfarbe von zwei Rechtsextremisten beschimpft und mit Pfefferspray attackiert wurde. Oder der Angriff auf einen Jugendlichen aus der linksalternativen Szene in Blankenfelde am 25. März. Das Opfer soll von sechs Vermummten am Bahnhof geschlagen und auf die Gleise geworfen worden sein, wo die Täter auf ihn eingetreten hätten.

"Die Zahlen sind immer noch unerträglich hoch"

Die Zahlen von Polizei und den Vereinen gehen mitunter weit auseinander. So dokumentierten die Aktivisten im Jahr 2005 für Brandenburg 128 Übergriffe mit rechtsextremistischer Motivation, das Landeskriminalamt hingegen notierte nur 97 Fälle. Doch die Zählweisen, bei denen die Vereine auch Bedrohungen oder Nötigungen erfassen, ändern an der hohen Summe wenig.

Auch die Reaktionen des obersten märkischen Strafverfolgers beruhigen nicht. "Die Zahlen sind immer noch unerträglich hoch", so Rautenberg. Männer wie er kennen die Realität mit den täglichen "Kunden" und deren Akten. Von Zonen in Ostdeutschland, in denen Schwarze nicht auf die Straße gehen könnten, will er nichts hören. Vorfälle wie in Potsdam könnten überall in Brandenburg passieren.

Den Begriff Einzelfall benutzt er nicht.

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