Rechtsstaats-TÜV
EU-Kommissare aus Ungarn und Polen stellen sich gegen von der Leyen
Die Kommissare aus Ungarn und Polen tragen den Bericht der EU-Kommission zur Rechtsstaatslage in den Mitgliedsländern nicht mit. Nationale Politik hat endgültig das Team von Kommissionschefin von der Leyen erreicht.
EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen: Rechtsstaats-Ärger jetzt auch in ihrem Team
Foto: STEPHANIE LECOCQ / AFP
Im Kollegium der EU-Kommission geht es üblicherweise recht harmonisch zu. Das Gremium - Kommissionschefin Ursula von der Leyen, 27 Kommissare und der Außenbeauftragte - entscheidet ohne förmliche Abstimmung. Das liegt auch daran, dass es für die Kommissare als verpönt gilt, nationale Politik zu betreiben, auch wenn sie von ihren Heimatländern entsandt wurden.
Umso interessanter ist, was nun in der Diskussion über den Rechtsstaats-TÜV passiert ist: Nach Informationen des SPIEGEL wollten Olivér Várhelyi, der ungarische Kommissar für EU-Erweiterung, und der polnische Landwirtschaftskommissar Janusz Wojciechowski den Bericht so nicht mittragen.
Der lange angekündigte Report verfehlte damit schon zu Beginn sein wichtigstes Ziel. Anders als erhofft bringt er in die aufgeheizte Diskussion über die Rechtsstaatsfrage keinen Frieden.
Dabei war genau das der Grund dafür, warum von der Leyens Experten zum ersten Mal die Lage von Demokratie, Medienfreiheit und Justizwesen in allen 27 Mitgliedsländern untersuchen sollten. So sollte der Eindruck vermieden werden, es gehe immer nur um die üblichen Verdächtigen – allen voran Ungarn und Polen, deren Regierungen seit Jahren Demokratie und Rechtsstaat aushöhlen.
Rechtsstaats-Ärger holt von der Leyen ein
Der Plan ging nicht auf, wie auch Vizekommissionspräsidentin Věra Jourová nach dem Treffen der Kommissare einräumte. Im Kollegium habe es "hauptsächlich Unterstützung, aber auch einige Einwände gegeben", sagte die Tschechin. "Das Ergebnis war, dass der Bericht vom Kollegium angenommen wurde." Es bedeutet aber auch, dass Jourovás ungarischer Kommissarskollege sich nicht auf ihre Seite gestellt hat – in einem Moment, in dem Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán Jourovás Rücktritt wegen Äußerungen in einem SPIEGEL-Interview fordert.
Offenbar wurde hinter den Kulissen lange verhandelt, um den ungarischen Kommissar wenigstens davon abzubringen, auf einer formalen Abstimmung zu bestehen. Diese sind extrem selten. Unter von der Leyens Vorvorgänger José Manuel Barroso etwa soll es so einen Fall gegeben haben, damals ging es um die Frauenquote in Aufsichtsräten.
Der Streit über den Rechtsstaats-TÜV zeigt, dass von der Leyen die Frage, wie die EU mit Ungarn und Polen umgehen soll, nicht mehr von sich weghalten kann. Ihre Idee war, die Beziehungen zu diesen und anderen osteuropäischen Ländern zu verbessern, indem sie Ungarn und Polen aus der Rechtsstaats-Schmuddelecke holte. Zumindest mit öffentlicher Schelte aus der Kommissionsspitze wollte man vorsichtiger umgehen.
Haushalt und Corona-Aufbaupaket drohen sich zu verzögern
Darum hat sich von der Leyens Vize Jourová nie groß geschert. Und auch sonst funktioniert die Zurückhaltung nicht mehr. Das liegt daran, dass in der EU wichtige Entscheidungen anstehen. Bis Ende des Jahres sollen der Mehrjahreshaushalt für die Jahre 2021 bis 2027 und die Corona-Wiederaufbauhilfen beschlossen werden - zusammen mehr als 1,8 Billionen Euro.
Wie jedes EU-Land hat Ungarn in diesen Fragen ein Vetorecht - und Orbán hat bereits klargemacht, dass er es zu nutzen gedenkt, sollte die EU darauf bestehen, einen sogenannten Rechtsstaatsmechanismus zu verabschieden. Genau darauf bestehen aber andere EU-Länder wie die Niederlande oder Österreich, bevor sie den Aufbauhilfen zustimmen.
Beim Rechtsstaatsmechanismus geht es darum, EU-Ländern, die gegen rechtsstaatliche Prinzipien verstoßen, notfalls das Geld aus Brüssel zu kürzen. Die deutsche EU-Ratspräsidentschaft hatte zuletzt einen Entwurf hierfür vorgelegt. Dieser orientierte sich zwar weitgehend an den – zum Teil widersprüchlichen – Vorgaben, die die Staats- und Regierungschefs bei ihrem Mammutgipfel im Juli gemacht hatten.
Die Vorgänge bei der Diskussion über den Rechtsstaats-TÜV zeigen, dass nun auch die Debatte in der Kommission selbst von nationalen Interessen vergiftet werden könnte. Eigentlich sollte die Nationalität der EU-Kommissare im Kommissionshauptquartier keine Rolle spielen. Oft genug bleibt dies jedoch Wunschdenken.
Várhelyi bestätigt alte Befürchtungen
Bei Várhelyi gab es schon vor seiner Ernennung zum Kommissar solche Befürchtungen. Zuvor war er Ungarns Botschafter bei der EU gewesen. In dieser Zeit vertrat er in Brüssel teils aggressiv Orbáns zunehmend autoritäre Politik – etwa dessen Vorgehen in der Flüchtlingskrise oder gegen Minderheiten und politische Gegner im eigenen Land.
Deshalb fiel Várhelyi im EU-Parlament in seiner ersten Anhörung vor der Ernennung zum Kommissar durch. Verärgert waren die Abgeordneten unter anderem über Várhelyis Behauptung, er habe schon als Botschafter unabhängig von Anweisungen aus Budapest agiert. Erst in der zweiten Runde winkte das Parlament ihn durch. Vorher hatte Várhelyi den Abgeordneten versprochen, als Kommissar "vollkommen unabhängig zu handeln". Er werde "keine Anweisungen irgendeiner Regierung annehmen" und "die Linie der EU verfolgen – und nur sie".
Im EU-Erweiterungsprozess gelte außerdem das "Grundsätze zuerst"-Prinzip, dozierte Várhelyi im Parlament. "Wenn es keinen Fortschritt oder sogar Rückschritte bei Grundrechten, Rechtsstaatlichkeit und der Unabhängigkeit der Justiz gibt, werden die Verhandlungen gestoppt." Sogar die finanzielle Unterstützung könnte ausgesetzt werden.
Damit hatte Várhelyi damals den Beitrittskandidaten ironischerweise genau das angedroht, was seine Kritiker in der EU nun gern im Fall von Ungarn tun würden – und was Orbán derzeit mit allen Mitteln zu verhindern versucht.