Reform der Bundeswehr Die Wehrpflicht-Lüge

Verteidigungsminister Guttenberg will die Wehrpflicht aussetzen, seine Kritiker preisen sie als demokratisches Gut. Die Realität ist und war immer eine andere: Trinkgelage, Schikanen, Langeweile. Auf SPIEGEL ONLINE berichten Wehrpflichtige aus sechs Jahrzehnten über ihren überflüssigen Dienst.
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Armee: Sechs Jahrzehnte Wehrpflicht

Foto: U.S. Army/ Getty Images

Berlin - "Identitätsfrage", sagt CSU-Chef Horst Seehofer. "Wesenskern der Union", meint Niedersachsens Ministerpräsident David McAllister. Für Unionsfraktionschef Volker Kauder ist die Wehrpflicht die Verbindung zwischen Gesellschaft und Armee. Wenn die gekappt ist? Tja. "Wohin das führen kann, wenn dieses Band nicht vorhanden ist, haben wir in unserer Geschichte mehrmals sehen können."

Wehrpflicht

Mag heißen: Schafft Deutschland die ab, riskiert es einen Nazi-Rückfall. Mindestens aber einen in Kaisers Zeiten.

Karl-Theodor zu Guttenberg

Tatsächlich? Wohl und Wehe der deutschen Demokratie sollen an den rund 60.000 Rekruten in deutschen Bundeswehrkasernen hängen? Absurd muten die Argumente an, welche die Anhänger der allgemeinen Wehrpflicht gegen Verteidigungsminister (CSU) ins Feld führen.

Der Mann arbeitet nicht an irgendeiner Reform der Bundeswehr, sondern an einer "der größten in ihrer Geschichte" (O-Ton Guttenberg). Mit dem Plan, die allgemeine Wehrpflicht zwar nicht aus dem Grundgesetz zu löschen, sie aber auszusetzen, bricht er mit einer vermeintlichen deutschen Traditionslinie. "Wer sie aussetzt, schafft sie ab - das muss jeder wissen", sagt Seehofer.

Alles spricht gegen Guttenberg: Die Parteifreunde, das CSU-Programm ("Die Allgemeine Wehrpflicht bleibt von zentraler Bedeutung für unsere nationale Sicherheitsvorsorge"), das CDU-Programm ("Wir bekennen uns zur Wehrpflicht") und der Koalitionsvertrag ("Die Koalitionsparteien halten im Grundsatz an der allgemeinen Wehrpflicht fest").

Nur die Realität spricht für ihn.

SPIEGEL ONLINE hat Wehrpflichtige verschiedener Jahrgänge befragt, von den fünfziger Jahren bis heute, in Bundeswehr und NVA:

So wie bisher kann es nicht weitergehen: Ein Heer unmotivierter Wehrpflichtiger in den Kasernen, die Ausbilder und Gerät binden. 250.000 Köpfe zählt die deutsche Armee, aber mit nur rund 7000 Soldaten in Auslandseinsätzen stößt sie schon an ihre Grenzen.

Skurril: Während etwa Großbritannien oder die USA ihre Wehrpflicht bereits vor Jahrzehnten abschafften, Frankreich sie vor neun Jahren aussetzte und Polen jüngst eine Berufsarmee eingeführt hat, hat Deutschland eisern an dieser Wehrform festgehalten - egal ob unter sozialdemokratisch oder christdemokratisch geführten Regierungen. Wenn es nach Guttenberg geht, soll damit nun Schluss sein. Eine um ein Drittel auf rund 165.000 Soldaten zusammengeschmolzene Armee aus Freiwilligen, Berufs- und Zeitsoldaten - so schwebt ihm die neue Bundeswehr vor. Im Herbst wird über seine Pläne entschieden.

"Das legitime Kind der Demokratie"

Bundeswehr

Die alte sollte eine Wehrpflichtigenarmee sein, weil sie ein Massenheer zur Landesverteidigung im Kampf der Systeme Ost gegen West sein musste: Im Falle eines heißen Krieges rechnete man mit großangelegten Panzerschlachten zwischen Elbe und Rhein. Das zweite Argument der Bundeswehrgründer für die Wehrpflicht: Nie wieder sollte sich eine Armee zum Staat im Staate entwickeln, wie es die in weiten Teilen demokratiefeindlichen Berufssoldaten in der Reichswehr der Weimarer Republik taten.

Schon lange vor der bundesdeutschen Wiederaufrüstung bezeichnete Bundespräsident Theodor Heuss (FDP) die Wehrpflicht als "das legitime Kind der Demokratie". In der Bundeswehr sollte dann der "Staatsbürger in Uniform" seinen Dienst tun und ihn "als Teil eines allgemeinen Bildungsprozesses begreifen, der ihn nicht von der Gesellschaft absondert, sondern in spezieller Weise mit ihr verbindet". So beschrieb es der Politikwissenschaftler Kurt Sontheimer.

Aber auch deutsche Berufssoldaten unterliegen den demokratischen Prinzipien der Bundeswehr. Oder sind Wehrpflichtige einfach intelligenter? Das wäre "eine Beleidigung für unsere vielen Berufs- und Zeitsoldaten, als ob diese nur einen IQ von 80 hätten und marodierend durch die Welt laufen würden", sagte Guttenberg der "Süddeutschen Zeitung".

Demokratie durch Wehrpflicht? Wann haben je deutsche Zwangsverpflichtete die Republik gegen ihre Feinde verteidigt? Vielleicht mag man die revoltierenden Soldaten im Herbst 1918 dazu rechnen, die den Weg vom Kaiserreich zur ersten deutschen Republik bahnten.

Aber sonst? 1813 wurde in Preußen die Wehrpflicht eingeführt, um die Befreiungskriege gegen Napoleon bestehen zu können. Das Ergebnis war nicht der Staatsbürger, sondern der Untertan in Uniform. Der diente dann in den deutschen Armeen, die 1870/71 gegen Frankreich ins Feld zogen, im Ersten Weltkrieg und auch im Zweiten Weltkrieg, nachdem Hitler die Wehrpflicht 1935 wieder eingeführt hatte. Drei Angriffskriege in 150 Jahren - auch das ist die Bilanz einer Wehrpflichtigenarmee.

Als die Bundesrepublik im April 1957 ihre ersten 10.000 Wehrdienstleistenden einzog, lästerte man in der DDR über die "als Soldaten verkleideten Werktätigen". Später zog die Nationale Volksarmee (NVA) dann selbst nach: Im Januar 1962 schwenkten die Machthaber im Osten auf die Wehrpflichtarmee um.

Klar ist: Die eine, positive Traditionslinie dieser Wehrform gibt es in Deutschland nicht. Wie aber erlebten deutsche Wehrpflichtige in den vergangenen fünf Jahrzehnten ihren Dienst an der Waffe? Fühlten sie sich als Staatsbürger in Uniform? Was brachte ihnen der Einsatz fürs Vaterland?

Fünfziger Jahre

Politiker Ströbele: "Ich habe versucht, mich dem zu entziehen"

Politiker Ströbele: "Ich habe versucht, mich dem zu entziehen"

Foto: THOMAS PETER/ REUTERS

Hans-Christian Ströbele, geboren 1939, Grünen-Bundestagsabgeordneter

"Ich gehörte zu einem der ersten Jahrgänge, die nach der Wiederbewaffnung eingezogen wurden und war 1959 ein Jahr bei der Bundeswehr, in Aurich in Ostfriesland bei der Luftwaffe.

Unter der Grundausbildung habe ich erheblich gelitten - ich empfand es als zutiefst verstörend, wie wir bei der Formalausbildung darauf trainiert wurden, auf Befehle automatisch zu reagieren, und wie uns abgewöhnt werden sollte nachzudenken. Wir wurden hart geschliffen. Die Schikanen waren mir zuwider. Etwa, dass man zwanzigmal um den Platz laufen oder durch Pfützen robben musste. Es ging oft nur darum, Leute fertigzumachen. Ich habe versucht, mich dem zu entziehen.

Wegen einer Ungerechtigkeit, an die ich mich heute nicht mehr erinnere, habe ich dann auch die Beförderung zum Gefreiten abgelehnt, so dass ich bis heute keinen Dienstgrad habe. Das brachte durchaus Nachteile, denn so musste ich auf 15 Mark zusätzlichen Wehrsold verzichten.

Danach wurde ich zum Vertrauensmann des Bataillons gewählt. Als Abiturient und Einziger in der Kaserne, der einen Ordner mit den Wehrgesetzen im Spind stehen hatte, wurde ich zur Anlaufstelle für alle, die Ärger hatten. Ich habe für sie Beschwerden geschrieben - manchmal auch Liebesbriefe.

Damals hat sich keiner groß darüber aufgeregt, aber fast alle Ausbilder, Unteroffiziere und der Feldwebel kamen aus der alten Wehrmacht. Sie hatten noch die gleiche Einstellung zum Soldatentum und zur Ausbildung wie zur Nazi-Zeit. Sie schwärmten uns von ihren Heldentaten vor. Diese personelle und inhaltliche Kontinuität zur NS-Zeit war unübersehbar und unüberhörbar. Sie brachten uns auch Lieder aus der Wehrmacht bei.

Aus meiner Bundeswehrzeit habe ich positiv den Zusammenhalt mit Kameraden in Erinnerung, von dem ja viele ehemalige Wehrdienstleistende erzählen. Sonst nicht viel.

Ich war damals nicht politisch links. Mein Wissen bezog ich aus der Zeitung "Die Welt". In den Köpfen von uns Abiturienten war nicht drin, dass wir den Wehrdienst verweigern könnten. Ich habe damals nicht begriffen, was es bedeutet, dass wir faktisch mit dem Ziel ausgebildet wurden, Feinde möglichst effektiv zu vernichten, also Menschen zu töten. Das kam erst im Nachhinein. Wir haben damals auf Pappschilder geschossen, auf denen Stahlhelme abgebildet waren, die aussahen wie die von Ostblocksoldaten.

Eine lustige Anekdote: Ich musste mich eines Tages beim Hauptmann melden, weil ich beim Marschieren zur Unordnung beigetragen haben sollte, indem ich beim Singen nicht den richtigen Ton traf und grottenfalsch, aber laut sang. Ich musste ihm vorsingen. Es dauerte nicht lange, bis er mich unterbrach. Es muss sich also wirklich schrecklich angehört haben. Fortan war ich vom gemeinsamen Singen befreit. So habe ich mir Freiräume geschaffen."

Sechziger Jahre

Hamburgs Innensenator Helmut Schmidt verleiht 1962 Dankesmedaillen an Soldaten

Hamburgs Innensenator Helmut Schmidt verleiht 1962 Dankesmedaillen an Soldaten

Foto: Blumenberg/ picture-alliance/ dpa

Christian Paulsen*, geboren 1944, Diplomingenieur

Ich war von 1966 bis 1967 18 Monate lang bei der Marine. Meine Grundausbildung habe ich in Brake an der Weser gemacht, danach war ich auf der Marineschule in Bremerhaven und dann auf dem Zerstörer "Hamburg".

Für mich war es damals kein Thema, dass ich verweigern könnte. In meiner Familie waren alle Männer Soldaten, mein Vater war der erste, der nach dem Krieg keinen militärischen Beruf mehr hatte, er wurde Pastor.

In der Grundausbildung gab es viel Leerlauf, auch manchmal Eintönigkeit. Den Unteroffizieren, die ja unsere Ausbilder waren, merkte man bisweilen an, dass sie ihre Zeit herumbringen wollten, sie waren nicht immer voll bei der Sache. Fast immer ging es aber freundlich zu. Nur ein Offizier auf dem Zerstörer hat uns aus militärischem Übereifer drangsaliert, war furchtbar pingelig. Aus Protest gegen ihn habe ich mich schließlich auch geweigert, Hauptgefreiter zu werden.

Sonst habe ich eher positive Erinnerungen - für mich war es eine ganz neue Erfahrung, mit Menschen aus anderen Schichten in Berührung zu kommen. Ich habe die Erkenntnis mitgenommen, dass jeder Mensch gleich fühlt. Und das habe ich dann auch gelernt: Einen unbefangeneren, selbstverständlicheren Umgang mit allen, egal woher sie kommen. Auf dem Zerstörer war ich in der Mannschaft der Einzige, der Abitur hatte. Dort hatte sich herumgesprochen, dass ich außerdem noch Pastorensohn bin. Die anderen haben mich dann allen Ernstes gefragt, ob wir denn zu Hause in einem Schloss lebten.

Was mich wirklich erstaunt hat: Wie viel ein Mensch trinken kann. Das habe ich erst bei der Bundeswehr mitbekommen. Bei einem Skatspiel gingen locker ein bis zwei Kisten Bier und reichlich Schnaps weg - für drei Leute.

Natürlich war mir auch klar, dass wir als Soldaten im Ernstfall andere töten müssen, das Schießen auf sogenannte Pappkameraden brachte das immer wieder in - unangenehme - Erinnerung. Aber die Möglichkeit, dass es irgendwo in der Nähe Krieg geben würde, war für mich damals sehr fern - auch wenn das im Nachhinein anders aussieht.

An meinem Verhältnis zum Staat hat meine Zeit bei der Bundeswehr nichts verändert - wohl auch, weil ich nichts Schlimmes dort erlebt habe.

*Name geändert

Siebziger Jahre

NVA-Soldaten in Berlin: "Dienst zutiefst widerwillig angetreten"

NVA-Soldaten in Berlin: "Dienst zutiefst widerwillig angetreten"

Foto: J. Wilds/ Getty Images

Roland Berbig, geboren 1954, Professor für Neuere Deutsche Literatur, Humboldt-Universität Berlin

Ich habe vom 4. November 1972 bis zum 24. April 1974 meinen Grundwehrdienst bei der Nationalen Volksarmee (NVA) in Rostock in einer Artillerieeinheit absolviert und war als Rechner nach einem halben Jahr Ausbildung dafür zuständig, die konkrete Zieleinstellung der Geschütze zu ermitteln. Innerhalb der Batterie war das eine etwas privilegierte Position, die ihr Vor- und Nachteile barg.

Wir Abiturienten in der DDR standen damals vor der Frage, ob wir 18 Monate Grundwehrdienst absolvierten oder uns auf drei Jahre zur NVA verpflichten ließen, um dann sicher einen Studienplatz zu bekommen. Ich habe mich für die 18 Monate entschieden - mit dem Risiko, nicht gleich an die Uni zu können (glücklicherweise ging alles glatt, ich konnte im Herbst 1974 mit dem Studium beginnen).

Für meine Einstellung in jener Zeit spielten einerseits mein protestantisches, eher intellektuelles Elternhaus und andererseits die vielfältigen familiären Kontakte zu meinen Verwandten - vor allem zu meinen Cousinen und Cousins - eine maßgebliche Rolle. Über die Grenze hinweg debattierten wir über Marx und Mao, teilten die Empörung über den entfesselten US-amerikanischen Krieg gegen Vietnam und die Faszination an der politischer werdenden Popkultur.

Meinen Dienst bei der NVA habe ich zutiefst widerwillig angetreten, ich hatte Angst vor der Fremdheit, die mich erwartete, und vorm unterbrechungsarmen Eingesperrtsein. Ich kannte niemanden, der den Wehrdienst verweigert hat. Das sollte sich ein paar Jahre später ändern. Den ersten Bausoldaten traf ich auf einem Schießplatz während einer Übung.

Ich war dann zutiefst verstört über die Verkommenheit der Verhältnisse bei der NVA. Ich hätte - trotz relativ weitgehender Illusionsfreiheit über die Verhältnisse in der DDR - nicht erwartet, dass es Umgangsformen dieser Art geben würde und vor allem, dass sie nicht nur geduldet, sondern begünstigt wurden. Unser Batteriechef (BC) etwa, der Soldaten, die Schnaps in die Kaserne geschmuggelt hatten, zwang, vier Stunden auf einem feuchten Lappen zu stehen. Mein Vorgänger auf dem Rechnerposten erschreckte mich gleich in den ersten Tagen mit der Bemerkung, dass er, wenn es für ihn gefahrlos bliebe, ohne Bedenken den BC 'abknallen' würde.

Das Profil der Offiziere kam mir gespenstisch vor, ihre Sprache maßlos und anmaßend, bei vielen gehörte Alkohol zum Alltag. In den zukünftigen Studenten sahen sie eine Gefährdung, fühlten sich durch unser Verhalten offenbar unterschwellig bedroht, während wir mit dem Überstehen der täglichen Erniedrigung mehr als beschäftigt waren. Kaum Eindruck hinterließ der Polit-Unterricht, in der Regel durchgeführt von Unteroffizieren oder einem Politoffizier, Leutnant und nur um Weniges älter als wir, nicht sympathisch, aber auch nicht das Gegenteil. Mit ihm verband mich bis zum letzten Tag eine merkwürdige Diskussion über Pro und Contra von Pazifismus. Auf dieser Ebene war das möglich und folgenlos.

Ein nachhaltiges Schockerlebnis war, als ich meinem Vater, Arzt in einer Kleinstadt, bei meinem ersten Urlaub von dem Wortschatz und der Umgangssprache erzählte, und er entgegnete, das sei genau die Sprache, die sie in seiner Wehrmachtszeit zwischen 1942 und 1945 gebrauchten. Das fand ich deprimierend, auch wenn ich nicht auf den Gedanken kam (und komme), daraus weiterreichende Schlüsse zu ziehen.

Natürlich sind unter diesen Gegebenheiten auch freundliche, ja freundschaftliche Beziehungen entstanden, Freundschaften, die über den Tag, über die Monate halfen und in guten Fälle über Jahre hielten. Wir haben sogar einen kleinen internen Lese- und Musikclub gegründet, einen sozialen Gegenraum gewissermaßen, ohne dass wir auf den Gedanken gekommen wären, ihn so zu bezeichnen. In der Rückschau wundert es mich, dass die, die da, wann immer es möglich war, zusammenkamen, aus unterschiedlichsten sozialen und beruflichen Lebenswelten stammten. Doch war das die Ausnahme, ich entsinne mich an nichts Vergleichbares in anderen Einheiten.

Grundsätzlich ist mir - sieht man von jener gerade erwähnten Erfahrung ab, für die ich nicht der NVA, sondern einem glücklichen Geschick in einer Notlage danke - aus der Zeit nichts in Erinnerung geblieben, das die unwürdigen und erniedrigenden Kommiss-Umstände im Nachhinein rechtfertigen könnte. Die Distanz, die ich während all der Jahre zur DDR in wechselnder Stärke empfand, war zu keinem Zeitpunkt so groß und mit so viel Verachtung verknüpft wie damals. Ein nötiges Wort zum Schluss: Alles, was hier zusammengetragen ist, verdankt sich der Spontaneität. Wo das Notierte aufhört, hätte ein eigentliches Nachdenken über diese nicht notwendige, aber bleibende Lebenserfahrung zu beginnen.

Achtziger Jahre

Autor Füller: "'Das ist jetzt nicht dein Ernst, Klaus', sagte ich"

Autor Füller: "'Das ist jetzt nicht dein Ernst, Klaus', sagte ich"

Christian Füller, geboren 1963, Journalist und Autor

Mein schönstes Erlebnis bei der Bundeswehr hatte ich gleich am Tag eins nach der Grundausbildung. Ich durfte mit einem anderen Gefreiten und meinem alten Kumpel Klaus auf die Panzerbahn. Klaus war ein Jahr vor mir am Gymnasium gewesen, ich hatte mit ihm Fußball gespielt. Aber jetzt stand er mit einer Silberlitze an seiner Schulterklappe vor mir. Das ist das Zeichen für Reserveroffiziersanwärter (ROA), sprich Vorgesetzter. Und also sagte Klaus: "Heben Sie das mal auf, Funker Füller." Ein einsames Kaugummipapierchen lag da auf der riesigen, von Panzern durchfurchten Fläche. "Das ist jetzt nicht dein Ernst, Klaus", sagte ich. Worauf er auf dem Sie bestand, seinen Befehl wiederholte und klarmachte: Das war ein Befehl. Und der gilt auch für Dich. Basta.

Ich weiß nicht, ob man diese Art von Menschenführung in ROA-Lehrgängen beigebracht bekommt. Ich lernte jedenfalls, dass das Prinzip von Befehl und Gehorsam gepaart mit Zeitsoldatentum den Charakter von Menschen nicht völlig unverändert lässt. Vielleicht ein wichtiger Hinweis auf die bevorstehende Abschaffung der Wehrpflicht: Was ist eigentlich blöder, eine Armee von Berufssoldaten oder eine von Wehrpflichtigen? Ich muss zugeben, ich kann mich nicht entscheiden.

Wer einmal zwei Stunden nach Dienstschluss in die Hölle eines Mannschaftsheimes gerät, weiß vielleicht, was gemeint ist. Wehrpflichtige zivilisieren nicht zwingend die Truppe. Sie verrohen sie auch. Es gibt wenig beklopptere Typen als Wehrpflichtige kurz vor ihrem Dienstende. Sie quälen neue Rekruten, sie nerven intensivst, sie plärren dir ständig "Visten" (gemeint sind Reservisten, d. Red.) ins Ohr. Was so viel bedeutet wie: "Du arme Sau, bleibst noch da. Aber ich gehe - in spätestens 90 Tagen."

Dennoch ringe ich stets mit mir, ob die Unteroffiziere, die ich kennenlernte, nicht noch eine Spur schrecklicher waren als Visten. Beim 5000-Meter-Lauf hetzte ein Oberfeldwebel mit seinen Uffz-Kumpanen einen ehrgeizigen Rekruten in die letzte Runde.

Der rannte sich die Lunge aus dem Leib, und als er im Ziel lag, völlig fertig, sagte ihm der Oberfeld: "Sorry, Du musst noch eine, wir haben uns getäuscht." Er selbst und einige andere Unteroffiziere liefen indes zwei Runden weniger - sonst hätten sie ihre Zeitvorgabe, die sie als Zeit- und Berufssoldaten erfüllen müssen, nie geschafft. Und weil ein Freund und ich das skandalisierten, wurden wir vor der versammelten Truppe verwarnt. Immerhin: Der Oberfeldwebel wurde einen Dienstgrad herabgestuft.

Als wir im sogenannten Fulda-Gap, ganz nahe am Eisernen Vorhang, auf Manöver waren, kulminierte mein Wertesystem in einem inneren Wettlauf. Es seien Grüne und Pazifisten gesichtet worden, die gegen das Manöver protestierten, hieß es. Sie näherten sich einer Sperrzone. Schnell stellte der Major ein kleines Kommando zusammen, das sich auf den Weg machte - mit sehr unterschiedlichen Zielen, wie sich auf der Fahrt herausstellte: Der Unteroffizier und zwei Obergefreite wollten den Grünen mit der Dachlatte vergeigen, was ein militärisches Sperrgebiet sei. Zwei andere Obergefreite hatten im Kopf, mit den Leuten zu reden und ihnen zu zeigen: Auch beim Bund gibt's nicht nur Dumpfbacken. Ich bin nicht sicher, ob das geklappt hat damals.

Von Christian Füller erschien zuletzt das Buch "Ausweg Privatschulen? Was sie besser können, woran sie scheitern", Koerber 2010.

Neunziger Jahre

Ehrenformation der Bundeswehr in Leipzig

Ehrenformation der Bundeswehr in Leipzig

Foto: ddp

Jan Clausmeyer, geboren 1979, Maler und Lackierer

Männer müssen zur Bundeswehr, hat mein Opa gesagt. Nach der Musterung 1999 ging ich im März 2000 nach Schleswig zum 1. Pionierbataillon 620. Viel fürs Leben gelernt habe ich da allerdings nicht. Ein Hemd richtig legen, mein Bett ordentlich machen - das konnte ich alles schon vorher. Ob die militärische Ausbildung einen Sinn hatte? Das Schießen? Die Waffenkunde? Für mich nicht. Niemals würde ich in einem Krieg kämpfen müssen, das wusste ich.

Dennoch waren die neun Monate eine gute Zeit, ich habe viele neue Leute kennengelernt. In der Gruppe haben wir einiges erlebt. Einmal mussten wir 15 Kilometer mit Gepäck marschieren. Mehr als die Hälfte unserer Kompanie hat schlappgemacht, die Jungs wollten einfach nicht weiter. Sie wurden erst ordentlich angeschrien und dann in Autos zurückgefahren. Unser Jüngster, ein totaler Computerfreak, fing irgendwann an zu weinen, er war völlig am Ende. Da habe ich ihm seinen Rucksack abgenommen und mir vorne umgehängt. So bin ich die Strecke dann zu Ende marschiert.

Wenn ich etwas gelernt habe, dann das: Manchmal hält man besser seinen Mund - vor allem gegenüber Vorgesetzten. Hierarchien funktionieren brutal bei der Bundeswehr. Das merkt man zum Beispiel dann, wenn man den kompletten Duschraum noch einmal putzen muss, nur weil beim ersten Mal eine Shampoo-Flasche übersehen wurde. Natürlich haben die Unteroffiziere den Inhalt erst auf die Spiegel geschmiert, ehe wir wieder schrubben durften.

Solche Geschichten kennen alle, die bei der Bundeswehr waren. Stundenlang kann man davon erzählen, das verbindet natürlich.

Als Dienst am Vaterland habe ich meine Wehrpflicht nicht verstanden. Bei der Vereidigung hatte ich meine Finger hinter dem Rücken gekreuzt - mein kleiner heimlicher Protest. Da muss ich noch heute drüber lachen. Andere haben bei der Hymne nicht mitgesungen. Für uns hatte der Wehrdienst keine besondere Bedeutung. Patriotismus interessierte uns nicht.

Die Zeit bei den Pionieren hat mir sicherlich nicht geschadet. Wenn ich heute noch einmal Wehrdienst leisten müsste, wäre das okay. Freiwillig hingehen würde ich aber nicht noch einmal.

Nuller Jahre

Wehrpflichtige bei Dienstantritt in der Berliner Julius-Leber-Kaserne

Wehrpflichtige bei Dienstantritt in der Berliner Julius-Leber-Kaserne

Foto: Sean Gallup/ Getty Images

Falko B., Jahrgang 1982, Unternehmensberater

Im Winter 2002 habe ich meinen neunmonatigen Grundwehrdienst bei der Bundeswehr angetreten. Bei einer Luftwaffeneinheit nahe Nürnberg. Für mich war klar, dass ich nach dem Abitur zum Bund gehe. Schließlich steht im Grundgesetz Wehrpflicht und nicht Wehrwollen. Ich bin Patriot. Es kam für mich nicht in Frage, zu verweigern.

Es war eben eine selbstverständliche Pflicht, der ich nachgekommen bin. Staatsbürger in Uniform? Das ist mir hingegen zu viel Idealismus.

Nach der dreimonatigen Grundausbildung habe ich in meiner weiteren Verwendung selbst neue Rekruten ausgebildet - und einen zehnten Monat drangehängt, um an einer Wehrübung teilnehmen zu können. Erst in dieser Zeit habe ich langsam das Gefühl bekommen, im Ernstfall tatsächlich mein Land verteidigen zu können. Nie hätten meine ersten drei Monate bei der Armee dafür ausgereicht. Ich wäre lediglich Kanonenfutter gewesen.

Ich bin für eine Berufsarmee und befürworte die aktuelle Debatte, da nur eine Professionalisierung die Bundeswehr zu einer für die heutigen Zwecke der asymetrischen Bedrohung einsatzfähigen Armee machen würde.

Ich empfinde es als ein Klischee, dass man beim Bund lernt, literweise Schnaps zu trinken. Unsinn. Überall, wo junge Menschen zusammen sind, gibt es das Phänomen - als Student habe ich das noch viel öfter und exzessiver erlebt.

Gleichwohl haben sich die Rekruten stark unterschieden: da gab es Abiturienten, Realschüler, Auszubildende und die sogenannten "MMM": Metzger, Maurer, Mörder - wie inoffiziell die Hauptschüler und diejenigen ohne Abschluss hießen.

Jedoch gab es in jeder dieser Gruppen teils sogar vorbestrafte, junge Männer - einige von ihnen an der Waffe auszubilden hat bei mir ein mulmiges Gefühl hinterlassen.

Erschreckend war auch die Bürokratie. Eigentlich wollte ich Reserveoffizier werden, von meinen Vorgesetzten wurde ich dabei unterstützt und auch empfohlen - wegen einer Katzenallergie aber nach einer langwierigen Prozedur von den Bundeswehrbeamten abgelehnt. Lächerlich.

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