Reformstreit in der Koalition "Eine Art Todessehnsucht"
Berlin - "Ich bin, was den 17.10. angeht, sehr, sehr optimistisch", sagte Gerhard Schröder am Mittwoch beim Geburtstagsempfang für Berlins Regierenden Bürgermeister Klaus Wowereit. Die Notwendigkeit der Reformen werde mehr und mehr deutlich und anerkannt.
Nachdem die rot-grüne Koalition am vergangenen Freitag nur mit Mühe eine eigene Mehrheit für die Gesundheitsreform erreicht hatte, ist angesichts anhaltender Kritik auch die Mehrheit für die Abstimmung am 17. Oktober fraglich. An dem Plan, durch die so genannten Hartz-Gesetze die Bundesanstalt für Arbeit zu reformieren und Arbeitslosen- und Sozialhilfe zusammenzulegen, gibt es in der Koalition ebenfalls Kritik.
Die baden-württembergische SPD-Vorsitzende Ute Vogt legte den Reformkritikern am Mittwoch nahe, die Bundestagsfraktion freiwillig zu verlassen. Wenn sie wirklich so unzufrieden mit dem Kurs seien, wie sie sagten, müssten sie überlegen, ob sie nicht selbst die Konsequenzen ziehen wollten. Allerdings könnten sie zum Mandatsverzicht nicht gezwungen werden.
Sie könne sich des Eindrucks nicht erwehren, dass einige Reformgegner von einer "Art Todessehnsucht befallen" seien, wenn sie immer wieder gegen unbequeme und unpopuläre Entscheidungen opponierten, fügte Vogt hinzu. Betrüblich sei, dass die wenigen Reformkritiker dafür sorgten, dass die ganze SPD als zerrissen wahrgenommen werde.
Der Sprecher des linken Flügels der SPD-Fraktion, Michael Müller, sagte mit Blick auf Schröders Äußerungen über die Abhängigkeit seines politischen Schicksals von den Reformen: "Ich plädiere eher dafür, ein bisschen abzurüsten." Man müsse schon ziemlich blind sein, nicht zu sehen, dass Schröder sein politisches Schicksal an die Agenda 2010 geknüpft habe. "Insofern braucht man es nicht so häufig zu sagen."
Müller forderte Schröder auf, deutlich machen, dass es bei seiner Reformagenda nicht nur um sozialpolitische Beschlüsse gehe, sondern vor allem darum, "den Gestaltungsspielraum für die Politik zu erweitern". Die innerparteiliche Debatte müsse mit dem Ziel geführt werden, den Umbau der sozialen Sicherungssysteme für einen neuen politischen Aufbruch zu nutzen. "Wenn dieses Signal noch klarer würde, bin ich ziemlich sicher, dass wir am 17. Oktober eine klare Mehrheit bekommen", sagte Müller im ZDF. Der Vize-Fraktionsvorsitzende spricht für den linken Flügel, hatte am Freitag aber nicht gegen die Gesundheitsreform gestimmt.
Der Sozialpolitiker Ottmar Schreiner hatte der ARD gesagt, er werde sich bei der Hartz-Abstimmung nicht verbiegen lassen. Der Reformkritiker Horst Schmidbauer, der wie Schreiner gegen die Gesundheitsreform gestimmt hatte, wollte sich noch nicht auf sein Abstimmungsverhalten am 17. Oktober festlegen.
Müller sagte, die SPD-Fraktion wolle in der kommenden Woche die Einwände gegen die Gesetze diskutieren und den Gestaltungsspielraum klären. "Wir werden die Agenda 2010 nicht verändern, aber möglicherweise in einzelnen Punkten modifizieren", sagte er. Müntefering hatte die Abgeordneten aufgefordert, ihm bis Samstag ihre Bedenken mitzuteilen, damit er diese in den Beratungsprozess über die Gesetze einbringen könne. In Fraktionskreisen war der Brief als Angebot an die Kritiker bezeichnet worden, aber auch als Instrument der Fraktionsführung, durch rechtzeitige Klärungen die eigene Mehrheit zu sichern.
Auch beim grünen Koalitionspartner muss Schröder mit Gegenstimmen rechnen. Grünen-Parlamentarier Winfried Hermann sagte, ohne Nachbesserungen der Hartz-Gesetze könne er am 17. Oktober dem Reformpaket im Bundestag nicht zustimmen. Er forderte die Bundesregierung auf, die Zumutbarkeitsregelung im Niedriglohnsektor abzuschwächen. Es gelte "auf jeden Fall" zu vermeiden, dass Arbeitslose einen Job annehmen müssten, der unter dem Tariflohn liegt.
Auch die Anrechnung von Lebensversicherungen auf das neue Arbeitslosengeld II sei für einige Fraktionskollegen nicht hinnehmbar, sagte Hermann. Kürzungen der Sozialleistungen für Jugendliche zwischen 18 und 25 Jahren, die einen Ausbildungsplatz ablehnen, bezeichnete der Abgeordnete als "schwarze Pädagogik".
Ähnlich hatte sich Grünen-Fraktionsvize Christian Ströbele in einem Brief an Parteifreunde geäußert. Ziel sei es, "Grausamkeiten von Hartz IV" zu verhindern. Ansonsten würden einige Grünen-Abgeordnete der Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe nicht zustimmen, warnte er. Er, Hermann und die Kollegin Jutta Dümpe-Krüger hätten dies dem Kanzler bei einem Gespräch vor der Abstimmung über den Gesundheitskompromiss "unmissverständlich deutlich" gemacht.
Dümpe-Krüger forderte, es müsse schnell eine Ausbildungsplatzabgabe eingeführt werden, da nur noch 30 Prozent der Unternehmen ausbildeten. Ob sie den Arbeitsmarktreformen zustimmen wird, ließ Dümpe-Krüger offen. Derzeit sei alles "im Fluss".