Regierung unter Druck Merkel fürchtet den großen Atomkrach

Kontrahenten Merkel, Gabriel:
Foto: picture-alliance/ dpaBerlin - Sigmar Gabriel hat sich Verstärkung mitgebracht - einen Experten und alten Bekannten. Wolfgang Renneberg, Atomexperte und früher Abteilungsleiter für Reaktorsicherheit im Umweltministerium. Sein Chef damals: Gabriel, von 2005 bis 2009 der zuständige Minister.
Die beiden haben noch eine Rechnung offen.
Denn 2009 verlor erst SPD die Bundestagswahl, dann wurde Renneberg vom neuen Umweltminister (CDU) geschasst und schließlich verlängerte die schwarz-gelbe Regierung die Laufzeiten der 17 deutschen Atommeiler. Es war das Rollback auf einem der zentralen Politikfelder der rot-grünen Jahre.
Unglücksbilder entwickeln ganz eigene Dynamik
Doch das , das Versagen der Kühlsysteme mehrerer Atommeiler, die Angst vor dem vielfachen Super-GAU, all das stellt die atomfreundliche Politik der Regierung Merkel ganz plötzlich und ganz massiv in Frage. Die Bilder und immer neuen Schreckensmeldungen, die seit Samstagmorgen, seit der Explosion im Atommeiler Fukushima 1, Minute für Minute um die Welt gehen - sie haben längst eine ganze eigene Dynamik entwickelt.
Sie könnten am Ende sogar das weltweite Aus der Atomenergie herbeiführen. "Das Atomzeitalter ist endgültig zu Ende", sagt SPD-Chef Gabriel: " Es ist vorbei."

Zwei Tage nach dem Beben: Verwüstete Ostküste
Die älteren deutschen AKW müssten so schnell als möglich abgeschaltet werden, für die anderen gelte: "Das Minimum ist die Einhaltung des alten Gesetzes." Zudem müssten die Sicherheitsbestimmungen sofort erhöht werden. Renneberg fügt hinzu: "Wir in Deutschland nehmen ein Restrisiko in Kauf, das nicht geringer ist als das in Japan."
Das ist der wunde Punkt von , die sich in der kommenden Woche wohl auch einer Bundestagsdebatte zum Thema stellen muss.
Konnten die deutschen Atomkraft-Anhänger noch immer auf die sowjetische Schrott-Technologie verweisen, wenn die Rede auf den Super-GAU von Tschernobyl 1986 kam, so zieht dieses Argument beim Hightech-Land Japan nicht. Mehr noch: Der Fukushima-Meiler hat deutsche Verwandte, Siedewasserreaktoren der Baulinie 69. Zu ihr gehören die störanfälligen Isar 1, Philippsburg 1 und Brunsbüttel.
Halt, sagen sie in Sachen Japan-Vergleich beim Deutschen Atomforum, dem obersten AKW-Lobbyistentrupp in Deutschland: "Eine Verkettung eines derart schweren Erdbebens und eines schweren Tsunamis ist in Deutschland nicht vorstellbar." Das gesteht auch SPD-Mann Gabriel zu, allerdings: "Das strukturelle Problem in Japan war der Stromausfall, der kann nicht nur durch ein Erdbeben entstehen."
Neue Atomdebatte trifft auf Kopf-an-Kopf-Rennen in Stuttgart
Das setzt die Kanzlerin an - und verspricht einen Sicherheitscheck für alle 17 deutschen Meiler, insbesondere mit Blick auf deren Notstromversorgung. Am Dienstag will sie mit den Ministerpräsidenten darüber reden. Wenn in einem hochentwickelten Land wie Japan ein solcher Atomunfall passiere, könne "auch Deutschland nicht einfach zur Tagesordnung übergehen", sagte sie am Samstag. Bei der Frage der Sicherheit dürfe es "keine Kompromisse geben".
Merkel will jede Konfrontation vermeiden, das Land nicht spalten - und der Opposition keine Angriffsfläche bieten. Am nächsten Wochenende wird in Sachsen-Anhalt gewählt, am Sonntag darauf - und das ist entscheidend für die Kanzlerin - neben Rheinland-Pfalz auch in Baden-Württemberg. In Stuttgart liefern sich Schwarz-Gelb und Rot-Grün in den Umfragen ein Kopf-an-Kopf-Rennen. CDU-Ministerpräsident aber steht nun plötzlich unter ganz besonderem Druck: Er hat sich über Monate als Atom-Vorkämpfer inszeniert, hat sogar Umweltminister Röttgen zwischenzeitlich zum Rücktritt aufgefordert, weil der die AKW-Laufzeiten nur moderat verlängern wollte.
Grünen-Chefin Claudia Roth sagte im Interview mit SPIEGEL ONLINE zum Wahlkampf im Ländle: "Die Frage, ob ein Atomlobbykurs wie der von Ministerpräsident Mappus das Land zukunftssicher macht, wird bestimmt eine Rolle spielen." Mappus sei schließlich "einer der Hauptverantwortlichen für die Laufzeitverlängerungen".
Mappus droht der Wahlsonntag. Am Ende könnten ein, zwei Prozentpunkte entscheidend sein. Und in Mappus' Umfeld trauen sie dem Japan-Schock noch deutlich mehr zu. Ausgerechnet in Baden-Württemberg steht auch einer der umstrittensten Uralt-Reaktoren: in Neckarwestheim. Um die Notstromversorgung des Meilers gab es in der Vergangenheit immer wieder Diskussionen, zudem steht der Meiler in der Region des Rheingrabens, einer geologischen Bruchzone, in der es durchaus zu kleineren Erdbeben kommen kann. Am Samstag knüpften rund 60.000 AKW-Gegner eine Menschenkette von Neckarwestheim ins 45 Kilometer entfernte Stuttgart.
Was also tun? Mappus muss runter von seinem Atom-Image. Am Sonntag kündigt er erst mal eine "unverzügliche sorgfältige Prüfung möglicher Konsequenzen für Baden-Württemberg" an. Sogar mit Blick auf eine mögliche Änderung der beschlossenen Laufzeitverlängerung gibt er sich plötzlich soft: "Ich stehe zu allen Diskussionen, was möglich ist, bereit." Atomkraftwerke im Südwesten, die nicht den Sicherheitsanforderungen entsprächen, müssten abgeschaltet werden. Es dürfe keine Denkverbote geben.
Wende in der Atompolitik?
Zeichnet sich da eine vorsichtige Wende in der Atompolitik ab, verabschiedet sich die Polit-Dynamikerin Merkel schneller von der Atomenergie als von Ex-Superstar Karl-Theodor zu Guttenberg? Oder alles nur reine Wahlkampftaktik? "Der Verdacht liegt nahe, dass es jetzt um eine Beruhigung vor den Landtagswahlen geht", sagt - logisch - der Wahlkämpfer Gabriel.
Es gibt aber einige Indizien für die Taktik-Variante. Merkel zum Beispiel sagt, in ganz eigener Dialektik: "An einem solchen Tag darf man nicht einfach sagen, unsere Kernkraftwerke sind sicher." Und fügt dann genau dies hinzu: "Sie sind sicher." In München sagt Bayerns Umweltminister Markus Söder (CSU), die Ereignisse in Japan seien so fundamental, "dass wir wirklich alles hinterfragen müssen". Dann schiebt er hinterher: An der beschlossenen Laufzeitverlängerung für AKW in Deutschland wolle er jedoch festhalten.
Nur die Rolle von Umweltminister Röttgen wirkt in dem Spiel noch etwas unklar. Der einstige Mappus-Gegenspieler scheint sich Schritt für Schritt vom Atomkurs seiner Partei zu entfernen. Am Samstagmittag stellte er fest, dass "die Grundfrage der Beherrschbarkeit von Gefahren" jetzt neu gestellt sei. Am Abend dann bezeichnete er die Atomenergie als "Auslaufmodell". Japan sei "eine Zäsur". Und er fügte an: "Ich finde, dass dieser Debatte nicht ausgewichen werden darf."
Das wiederholte er auch am Sonntagabend im ARD-"Bericht aus Berlin". Aber zugleich verteidigte auch er da die Laufzeitverlängerung für die deutschen AKW: Im Zusammenhang damit sei ja auch ein Nachrüstprogramm beschlossen worden.
Die AKW-Vorkämpfer dagegen suchen zu retten, was noch zu retten ist. Unionsfraktionschef Volker Kauder, nicht unbedingt ein Röttgen-Anhänger, warnt vor "politischen Schnellschüssen". Die Lage scheint ernst, sie trauen dem eigenen Umweltminister nicht. Es gibt da schließlich auch noch dieses Zitat aus dem Februar 2010. Eine Volkspartei wie die Union, sagte Röttgen damals, müsse sich "gut überlegen, ob sie gerade die Kernenergie zu einem Alleinstellungsmerkmal machen will".