Regierungsbildung in Thüringen Wie auch ein Verlierer Ministerpräsident werden kann

Klare Regel beim Koalieren: Wer mehr Stimmen erhält, stellt den Ministerpräsidenten. Doch in Thüringen könnte es anders kommen. Der Politologe Franz Walter erklärt, wo der kleine Koalitionspartner in der Geschichte schon manchmal den Kabinettschef gestellt hat - und worauf es dabei ankommt.
Joker in der Hinterhand? Linke-Politiker Ramelow (links) könnte dem Sozialdemokraten Matschie in Thüringen den Vortritt lassen

Joker in der Hinterhand? Linke-Politiker Ramelow (links) könnte dem Sozialdemokraten Matschie in Thüringen den Vortritt lassen

Foto: Z1020 Martin Schutt/ dpa

Erleben wir am Sonntag in Thüringen eine Premiere? Einiges spricht dafür, dass die Linke dort bei den anstehenden Landtagswahlen stärker wird als die Sozialdemokraten. Doch raunt man sich seit einigen Tagen zu, dass der Anführer der Linken, Bodo Ramelow, bereit sei, den Spitzenkandidaten der Sozialdemokraten, Christoph Matschie, als Regierungschef in einem rot-roten Kabinett den Vortritt zu lassen - ihn gar selbst für den Ministerpräsidentenposten vorzuschlagen.

Denn anders würde man die Sozialdemokraten nicht in das rot-rote (-grüne) Boot bekommen. Bekannt ist, dass Oskar Lafontaine die Dinge anders sieht: In einem parlamentarischen System, so der Saarländer, stelle immer die stärkere Partei den Regierungschef.

So ist man das in der Tat seit mehreren Jahrzehnten in der Bundesrepublik gewohnt. Aber ein ehernes Gesetz des Parlamentarismus ist es nicht. Blicken wir dafür zunächst kurz nach Österreich des Jahres 1999. In der schwarz-blauen Koalition aus FPÖ und ÖVP, die sich damals bildete, ging die Kanzlerschaft an die schwächere Partei, an die Österreichische Volkspartei des Wolfgang Schüssel.

Anders wäre eine solche Koalition auch nicht denkbar gewesen; ein rechtspopulistischer Kanzler wäre der österreichischen Christdemokratie dann doch zu weit gegangen - aber die Haider-Partei hatte so den Fuß fest in die Tür der Macht gesetzt. Auf eines weist das österreichische Beispiel sicher hin: In Phasen des Umbruchs traditioneller Parteiensysteme verändern sich auch die überlieferten Muster parlamentarischer Mehrheitsbildung - zumindest ein bisschen.

Das konnte man übrigens vor 40 Jahren bereits bei einem nördlichen Nachbarn der Deutschen ebenso beobachten, bei den Dänen. Anfang 1968 hatte sich die dortige radikal-liberale Partei bei den Wahlen überraschend auf 15 Prozent verdoppelt, war den beiden anderen, klassischen bürgerlichen Parteien nahegekommen. Bis dahin hatten die Radikal-Liberalen mit den Sozialdemokraten kooperiert; nun aber gingen sie mit den sonst chronisch unterlegenen bürgerlichen Parteien eine Koalition ein - und stellten selbst, obwohl die kleinste Regierungsfraktion, den Kabinettschef. À la longue war dadurch die klassische sozialdemokratische Hegemonie in Dänemark zumindest in Frage gestellt.

Heimatverbunden und trickreich

Doch finden wir in diesem Zusammenhang nicht nur gleichsam episodische dänische oder österreichische Sonderwege. Auch die bundesdeutsche Frühgeschichte kennt Ministerpräsidenten von Minderheitsparteien. Sehr prominent wurde seinerzeit in dieser Position der südwestdeutsche Ministerpräsident Reinhold Maier von der FDP.

Maier amtierte - zunächst in Württemberg-Baden, dann in Baden-Württemberg - über acht Jahre und drei Landtagswahlen hinweg als Regierungschef, obwohl die Liberalen stimmenmäßig stets hinter Christ- und Sozialdemokraten lagen. Eine politische Führungskunst des ersten und letzten freidemokratischen Ministerpräsidenten in der bundesdeutschen Geschichte, die einzigartig blieb.

Maier war ein erfahrener Politiker, ein großer Mittler zwischen verschiedenen Strömungen, gewissermaßen ein früher Manager der Konkordanz. Am Ende der Weimarer Republik hatte er dem württembergischen Landtag und dem deutschen Reichstag angehört, war in Stuttgart Wirtschaftsminister, ein auch weiterhin heimatverbundener Volksmann seiner schwäbischen Region. So, fest verwurzelt, konnte er Anfang der fünfziger Jahre zweimal die CDU austricksen und mit den Sozialdemokraten ein frühes, damals rares sozial-liberales Bündnis eingehen.

Zwölf Prozentpunkte weniger - und trotzdem Ministerpräsident

Die SPD des späteren Bundesfinanzministers Alex Möller akzeptierte Maier als Chef der Landesregierung, obwohl die Sozialdemokraten um zwölf bzw. zehn Prozentpunkte besser abgeschnitten hatten als die FDP Maiers. Denn allein dadurch konnte sich die SPD im für sie schwierigen Ländle einen Zugang zur Macht verschaffen, die CDU außen vorhalten.

Doch endete diese Periode 1953 mit der absoluten Mehrheit der christlichen Union. Maier selbst wurde daraufhin Bundestagsabgeordneter, avancierte von 1957 bis 1960 zum Bundesvorsitzenden der FDP - und blieb ein hochangesehener Repräsentant des Liberalismus.

Warum kleine Parteien ungewohnte Chancen bekommen

Ein politisch ähnlich erfahrener Mann war Heinrich Hellwege von der welfischen, konservativen Deutschen Partei (DP), als er 1955 zum niedersächsischen Ministerpräsidenten gewählt wurde, wenngleich er ebenfalls nicht der stärksten Fraktion der Regierungspartei entstammte.

Hellwege hatte zuvor dem Deutschen Bundestag und dem niedersächsischen Landtag angehört, war unter Adenauer Bundesminister gewesen. Wie Maier war auch er ein ausgleichender, heimatverwurzelter Politiker, Grünkohlkönig von Oldenburg.

In seinem ersten Kabinett akzeptierte ihn die stärkere CDU, da der Kanzler Adenauer die Landespartei dazu zwang, er brauchte die DP und die niedersächsischen Stimmen für die Bundesratsmehrheit. Im zweiten Kabinett ließen sich dann die ebenfalls stimmenstärkeren Sozialdemokraten auf Hellwege ein, um nicht in die Isolation zu geraten, in der die SPD Erich Ollenhauers auf der Bundesebene steckte.

SPD hatte einfach keinen geeigneten Kandidaten

Selbst die Anfangsjahre der Weimarer Republik zeigen, dass keineswegs immer die stärkste Regierungsfraktion den Chef der Regierung stellen muss. Konstantin Fehrenbach etwa wurde am 25. Juni 1920 als Repräsentant der katholischen Zentrumspartei zum Reichskanzler gewählt, obwohl in seinem Kabinett mit Links- und Rechtsliberalen letztere mehr Mandate in die Waagschale werfen konnten. Aber die Minderheitsregierung von Fehrenbach benötigte die Tolerierung der SPD, die einen Politiker der Deutschen Volkspartei, der "Bourgeoisie", nicht geduldet hätte.

Im Kabinett Joseph Wirth, dass sich am 10. Mai 1921 bildete, stellte abermals die katholische Zentrumspartei den Kanzler, wenngleich hier die Sozialdemokratie als stärkste Partei mit in der Regierung saß. Aber die SPD hatte einfach keinen geeigneten Kandidaten.

Im Sommer und Herbst 1923 stand der Rechtsliberale Gustav Stresemann an der Spitze der deutschen Reichsregierung. Die Republik befand sich - siehe die Folgen von Hyperinflation und Ruhrbesetzung - in einer dramatischen Notlage; und die Sozialdemokraten als stärkste Regierungspartei wollten sich daran die Finger nicht verbrennen und mieden deshalb die Kanzlerschaft.

Mehrheitsbildung wird labiler, komplexer, überraschender

1927/28 residierte wieder ein katholischer Zentrumsmann, Wilhelm Marx, im Kanzleramt, wo diesmal die extrem rechtskonservativen Deutschnationalen die höchsten Stimmanteile in der Koalition aufwiesen. Aber der völkische Extremismus der DNVP war außenpolitisch derart gefährlich, dass selbst Reichspräsident von Hindenburg, der den Deutschnationalen durchaus nahestand, einen Kanzler aus ihren Reihen nicht befürwortete. Hier ist die Parallele zu Wien 1999 gewiss evident.

Nun ist die Weimarer Republik bekanntermaßen nicht zu einer Erfolgsstory geworden. Und man mag die Merkwürdigkeiten und Instabilitäten, auch politische Unreifen der Regierungsbildung dafür mitverantwortlich machen.

Aber kurzum: Ganz ungewöhnlich oder gar anstößig wäre eine Thüringer Lösung, wie sie derzeit Bodo Ramelow unterstellt wird, nicht. Sie wäre vor allem ein weiteres Signum dafür, das die Zeiten hyperstabiler parlamentarischer Verhältnisse und Eindeutigkeiten vorbei sind. Mehrheitsbildung wird labiler, komplexer, überraschender. Kleinere Parteien bekommen ungewohnte Chancen.

Schwierige Konstellationen erfordern große Führungskunst

Volksnähe und heimatliche Verwurzelung sowie lagerübergreifende Kontakte werden zum Bonus für die Anwärterschaft zum Ministerpräsidenten, vermögen sogar Defizite des Parteiengewichts zu kompensieren.

Natürlich kann man mit Verweis auf Weimar besorgt orakeln, dass die Demokratie dadurch in Gefahr gerät. Aber schwierige Konstellationen müssen nicht das politische Menetekel zwangsläufig zur Folge haben. Sie erfordern allerdings weit größere Führungskunst als in Zeiten berechenbarer und unmissverständlicher Wahlausgänge. Die Weimarer Politikeliten besaßen wenig von dieser Führungsqualität; das hat die Erosion der Republik kräftig befördert.

Ob die bundesdeutsche politische Klasse des frühen 21. Jahrhunderts ebenso verantwortungsscheu und unelastisch ist, wird sich demnächst zeigen. Thüringen könnte von Sonntag ab die erste Probe auf Exempel werden.

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