Regierungsbildung SPD erwärmt sich für Kanzler-Sharing

Schröder und Merkel können sich nicht einigen, wer Regierungschef werden soll. Warum also werden nicht beide Kanzler? Die "Israel"-Variante findet in der SPD immer mehr Anhänger. Auch Schröder selbst hält sie für sinnvoll.

Berlin - Im Kanzlerpoker scheint Gerhard Schröder inzwischen die so genannte "Israel-Variante" zu favorisieren. Demnach würde zuerst Schröder zwei Jahre einer Großen Koalition vorstehen und dann den Stab an Angela Merkel übergeben. Schröder denke daran, die Kanzlerschaft zwischen SPD und Union aufzuteilen, berichtete der Fernsehsender RTL heute abend. Dies werde als "sinnvolle Möglichkeit" erachtet, bestätigten Regierungskreise SPIEGEL ONLINE.

Auch der rechte Seeheimer Kreis der SPD wirbt offensiv für diese Variante. Zwar bevorzuge man weiterhin eine Ampel-Koalition unter Führung Schröders, sagte der Sprecher Johannes Kahrs. Da diese aber offensichtlich nicht zustande komme, sei das Kanzler-Sharing die zweitbeste Option. Wenn die Union eine Große Koalition wolle, komme sie an Schröder nicht vorbei. "Merkel gibt es nur mit Schröder", betonte Kahrs. Parteisprecher Lars Kühn dementierte den RTL-Bericht am Abend als bloße Spekulation: "Wir wollen regieren mit Gerhard Schröder als Bundeskanzler." Zugleich vermied er jedoch weitergehende Aussagen: "Es gibt derzeit keinen Grund für Entscheidungen."

Mit dem öffentlichen Liebäugeln mit der "Israel"-Variante kommt zum ersten Mal seit der Wahl Bewegung in die Kanzlerfrage. Bisher hatten beide Seiten darauf bestanden, den Kanzler für die volle Legislaturperiode zu stellen. Seit heute ist die Große Koalition die einzige realistische Alternative, denn am Mittag hatten die Grünen und die Union ihre Sondierungsgespräche ergebnislos beendet. Die so genannte Jamaika-Koalition ist tot. Eine Minderheitsregierung wird von den Spitzen der Union und SPD ausgeschlossen - auch wenn Einzelne wie SPD-Parteivorstandsmitglied Hermann Scheer sich dafür stark machen.

Die Annäherung zwischen Union und SPD geht unterdessen voran. Demonstrativ speisten Innenminister Otto Schily (SPD) und der frühere Unions-Fraktionsvize Friedrich Merz gestern gemeinsam zu Mittag - im Café Einstein auf dem Berliner Boulevard Unter den Linden. Öffentlicher kann man sich nicht treffen.

Schily und Merz würden beide mit großer Wahrscheinlichkeit in einer schwarz-roten Regierung sitzen. Schily, der die CDU schon als Innenminister in einigen Fragen rechts überholt hat, wird als Kandidat für den Außenministerposten gehandelt. Merz gilt seit dem Abgang Paul Kirchhofs als möglicher Finanzminister. Auch Edmund Stoiber, der sich eigentlich schon darauf eingerichtet hatte, als Ministerpräsident in München zu bleiben, scheint es nun doch in Richtung Berlin ziehen. Dort wolle er eine "tragende Rolle" übernehmen, meldet die "Leipziger Volkszeitung" unter Berufung auf führende CSU-Politiker. CDU-Chefin Merkel sei von der "nahezu abgeschlossenen Meinungsbildung" Stoibers unterrichtet worden.

Die Öffentlichkeit ist gespalten über die Große Koalition. Nach dem heute veröffentlichten ZDF-Politbarometer sehen 45 Prozent der Befragten das schwarz-rote Bündnis als beste Möglichkeit an. 43 Prozent halten es allerdings für schlecht.

Nächsten Mittwoch treffen sich Merkel, Stoiber, Schröder und SPD-Chef Franz Müntefering zum zweiten Sondierungstreffen in Berlin. Dabei soll es um neun Themenfelder gehen. Über Personen wird ausdrücklich nicht gesprochen. Es ist nicht zu erwarten, dass Schröder oder Merkel bald auf ihren Anspruch verzichten werden: Vor dem 2. Oktober, wenn im Wahlkreis Dresden I eine Nachwahl stattfindet, wird mit keiner Einigung gerechnet. Bis dahin herrscht nämlich noch Wahlkampf.

Die nächsten Tage, während derer die Kanzlerfrage noch festgefahren sein wird, geben beiden Seiten Zeit, die Fühler auszustrecken und inhaltliche wie personelle Optionen unterhalb des Chefpostens auszuloten. Merz lässt in der morgigen Ausgabe der "Süddeutschen Zeitung" bereits mitteilen, dass er eine "breite Mehrheit" für eine Unternehmensteuerreform sehe. Die Union werde nicht auf einer Senkung der Einkommensteuer beharren. Das Wahlprogramm habe sich in steuerpolitischer Hinsicht erledigt, weil die Union die Wahl nicht gewonnen habe, so Merz.

SPD-Fraktionsvize Joachim Poß flötete umgehend zurück, dass Merz sich auf die sozialdemokratische Position zubewege. Der Finanzexperte der SPD erklärte sich im Gegenzug bereit, alle Unternehmen einer einheitlichen Steuer zu unterwerfen.

In der K-Frage hingegen wird weiter auf Drohgebärden und Zermürbung des Gegners gesetzt. "Lieber aufrecht in Opposition als gebückt in die Regierung", sagte der Unions-Fraktionsvize Wolfgang Bosbach heute.

Ein Verzicht auf Angela Merkel komme nicht in Frage, sagte auch der saarländische Ministerpräsident Peter Müller. Der hessische Ministerpräsident Roland Koch offerierte Schröder großzügig den Außenministerposten - ein vergiftetes Angebot. Gestern hatte Merkel bereits süffisant gesagt, sie glaube nicht, dass Schröder als Vizekanzler zur Verfügung stünde.

Auf SPD-Seite meldeten sich reihenweise Unterstützer Schröders, darunter Fraktionsvize Ludwig Stiegler und der brandenburgische Ministerpräsident Matthias Platzeck. Allerdings macht sich auch eine Absetzbewegung von Schröder bemerkbar. Nachdem in den vergangenen Tagen schon Landeschefs wie Klaus Wowereit und Henning Scherf sowie Ex-SPD-Chef Björn Engholm einen Verzicht auf Schröder in Aussicht gestellt oder gefordert hatten, schloss auch Fraktionsvize Michael Müller dies heute nicht grundsätzlich aus. Die SPD werde "zunächst mit diesem Kandidaten ins Feld gehen", sagte er im "Südwestrundfunk". Alles andere sei aber "eine Frage von Verhandlungen".

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