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Rekord-Demos in Deutschland Atomstreit trifft Koalition mit voller Wucht

Die Glaubwürdigkeit der Union ist beschädigt, die FDP distanziert sich: Das AKW-Moratorium sorgt für ordentlichen Krach innerhalb der Koalition. Auf den bisher machtvollsten Demonstrationen forderten Bürger am Samstag den unumkehrbaren Ausstieg aus der Atomkraft.

Berlin - Unmittelbar vor den Wahlen in Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg ist der Streit innerhalb der Koalition über die Atomwende von Kanzlerin Angela Merkel (CDU) voll entbrannt. Den sofortigen Ausstieg aus der Atomkraft forderten am Samstag bundesweit rund 250.000 Demonstranten. Die Veranstalter sprachen von den bisher größten Anti-AKW-Protesten überhaupt in Deutschland.

"In der Atomfrage wurde überhitzt eine Entscheidung getroffen, die unsere Glaubwürdigkeit in Frage stellt", sagte der CDU-Energieexperte Thomas Bareiß dem SPIEGEL unter Bezug auf das AKW-Moratorium der Bundesregierung. "Unsere bisherige Argumentation in der Kernenergie ist in sich zusammengebrochen." Unterstützung kam vom wirtschaftspolitischen Sprecher Joachim Pfeiffer: Wenn die Kernkraft vom Netz genommen werde, werde der Druck auf die Strompreise noch einmal drastisch zunehmen. Aus der FDP wurde darauf verwiesen, das Moratorium für Alt-AKW hätten Ministerpräsidenten der Union durchgesetzt. FDP-Wirtschaftspolitiker Martin Lindner sprach von einer "Hauruck-Entscheidung". Der FDP-Finanzexperte Hermann Otto Solms sagte: "Das Abschalten der Kernkraftwerke haben die Unions-Ministerpräsidenten durchgesetzt, die damit Fakten geschaffen haben." Dadurch sei "der falsche Eindruck entstanden, die Überprüfung sei nicht ergebnisoffen".

Nach Informationen des SPIEGEL erntet auch die von Merkel eingesetzte Ethikkommission, die mit über die AKW-Zukunft entscheiden soll, Kritik. Sie soll von Ex-Umweltminister Klaus Töpfer mitgeleitet werden. "Es kann nicht sein, dass am Ende Töpfer mit seinen Bischöfen kommt und dem Parlament sagt, wie es das Atomgesetz zu ändern hat", sagte ein Vertreter der Fraktionsspitze, der nicht namentlich genannt werden wollte. Die Merkel-Kritiker wollten nun ein eigenes Beratergremium zusammenstellen.

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Fukushima-Effekt: Großaufgebot gegen Atomkraft

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Töpfer fordert schnellstmöglichen Ausstieg

Töpfer selbst sagte in der "Bild am Sonntag", man müsse aus der Atomtechnik so schnell wie möglich aussteigen: "Ein anderes Handeln wäre nicht verantwortlich." Er glaube zudem nicht, dass die sieben abgeschalteten alten Meiler wieder ans Netz gehen würden. Dagegen warnte BASF-Chef Jürgen Hambrecht, ebenfalls Mitglied in der Ethikkommission, vor übereilten Entscheidungen: "Wir können doch nicht einfach aussteigen und uns den Strom aus dem Ausland holen, der dort mit Kernkraft erzeugt wird, und uns dabei wohlfühlen", sagte er der "FAZ".

Verbraucherministerin Ilse Aigner (CSU) warnte die Stromkonzerne, die zumindest dreimonatige Abschaltung der Meiler als Vorwand für Preiserhöhungen zu nutzen. Die Kosten rechtfertigten keine höheren Tarife, sagte sie der Zeitschrift "Super Illu". Zudem äußerte auch sie sich skeptisch, ob die Altmeiler alle wieder ans Netz gingen: "Wenn wir die Sicherheitsstandards deutlich erhöhen müssen, wird es ältere Reaktoren geben, die nicht wieder ans Netz gehen." Noch deutlicher wurde CSU-Chef Horst Seehofer: "Ich kann mir schwer vorstellen, dass es wirtschaftlich ist, sie noch einmal nachzurüsten", sagte er mit Blick auf alle sieben Reaktoren.

Hunderttausende gehen auf die Straße

Unterdessen artikulierte sich der Atomprotest nach Angaben der Veranstalter so machtvoll wie nie zuvor in Deutschland. Allein in Berlin gingen demnach 120.000 Atomkraftgegner auf die Straße, in Hamburg folgten 50.000 Menschen den Protestaufrufen, in Köln und München jeweils 40.000. Zu den Demonstrationen unter dem Motto "Fukushima mahnt - alle AKW abschalten" hatte ein breites Bündnis von Anti-Atom-Initiativen, Umweltverbänden, globalisierungskritischen und friedenspolitischen Organisationen aufgerufen. Im japanischen Fukushima waren bei der verheerenden Erdbeben- und Tsunami-Katastrophe vom 11. März mehrere Atomreaktoren beschädigt worden. Das genaue Ausmaß des Atomunglücks ist weiterhin nicht bekannt.

Die Veranstalter erklärten nach den Protesten: "Die Antwort der Bundesregierung muss jetzt das Abschalten der Atomkraftwerke sein." Mehrere Redner warfen Bundeskanzlerin Angela Merkel eine "unverantwortliche Verzögerungs- und Verschleierungspolitik" vor. Mit ihrem Moratorium für die AKW-Laufzeitverlängerungen sowie mit den von ihr eingesetzten Kommissionen weiche sie der Notwendigkeit eines sofortigen Atomausstiegs aus.

Sommer forderte in seiner Rede auf der Kundgebung in Berlin, die "Uralt-Atomkraftwerke" in Deutschland müssten dauerhaft abgeschaltet werden. Notwendig sei ein "annehmbarer Fahrplan für den endgültigen Atomausstieg". "Wir müssen geordnet aussteigen - aber so schnell wie möglich und unumkehrbar." Der Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbunds (DGB) fügte hinzu: "An die Adresse der Atomlobby und alle Verfechter der Atomindustrie sagen wir: Nicht mit uns! Wir haben genug von den Lügen, den Beschwichtigungen, den Verharmlosungen!"

SPD-Chef Sigmar Gabriel wertete die große Beteiligung an den Protesten am Rande der Berliner Demonstration als Beleg, dass die Menschen in Deutschland den Atomausstieg wollten. "Sie wollen, dass wir die Energiewende beschleunigen." Die ältesten Atomkraftwerke müssten "sofort und endgültig vom Netz. Alle anderen müssen anhand modernster Sicherheitsanforderungen überprüft und dann nach und nach abgeschaltet werden".

sto/Reuters/dapd/AFP/dpa
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