Erinnerungen an Richard von Weizsäcker Er hat uns befreit

Richard von Weizsäcker fand die richtigen Worte, 40 Jahre nach Ende des Krieges. Er war kulturell und intellektuell der Gegenentwurf zu Helmut Kohl. Für Deutschland waren beide gut, auch wenn sie sich kaum leiden konnten.
Erinnerungen an Richard von Weizsäcker: Er hat uns befreit

Erinnerungen an Richard von Weizsäcker: Er hat uns befreit

Foto: MARCO-URBAN.DE

Es war ein Donnerstag, es war in der alten Bonner Republik, irgendein Empfang, da setzte sich Richard von Weizsäcker zu mir. Ich war ein junger Mensch, Korrespondent der "Zeit", nicht unbedingt jemand, dessen Nähe der Bundespräsident sucht.

Er fragte mich, wie es mir gehe, was meine Söhne so anstellten. Er wusste, dass sie bei mir lebten; es interessierte ihn, und ich weiß heute noch nicht, warum. Er war reizend, er fragte eindringlich, und ich tat gut daran, ernsthaft zu antworten. Neben all seiner Klugheit und dem Bewusstsein seiner Bedeutung war Richard von Weizsäcker witzig, selbstironisch und ein Mensch, der sich für Menschen interessierte.

Natürlich war er auch anstrengend, ganz gewiss sogar. Er verstand es, Mitarbeiter um sich zu versammeln, auch junge, die ebenso schlau wie ihm ergeben waren und die er zu Höchstleistungen antrieb. Als in den Achtzigerjahren der Konflikt mit "diesem unfähigen Herren nebenan", damit war Helmut Kohl gemeint, sich allmählich mit Gefühlen auflud, da verwandelte sich die Kamarilla um Weizsäcker in fast so etwas wie eine Sekte. Dieser Bundespräsident war kulturell und intellektuell der Gegenentwurf zum Bundeskanzler, der ihn einst in die Politik gezogen hatte.

Weizsäcker und die protestantische Mafia

Für immer wird Richard von Weizsäckers große, gemeißelte Rede zum 40. Jahrestag des Kriegsendes im Buch der Deutschen stehen. 40 Jahre dauerte es, bis ein Repräsentant der deutschen Elite die richtigen Worte fand, die wie alles Richtige einen einfachen Kern besaßen: Der 8. Mai 1945 war für die Deutschen zugleich eine Katastrophe und die Befreiung. Es ist kein Zufall, dass die ewigen Historikerstreite, die meine Generation in die Wut trieben, von da an abebbten.

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Richard von Weizsäcker: Der ideale Präsident

Große Reden haben etwas Befreiendes, und Richard von Weizsäcker befreite uns. Was er über den Krieg sagte, war erlebt und erlitten. In Nürnberg gehörte er zur Riege der Verteidiger, die seinen Vater Ernst ins rechte Licht zu rücken versuchten. Ganz davon abgesehen, was wir über die Rolle des Staatssekretärs im Außenministerium während des Krieges denken: Wir können nur ahnen, was es für einen Sohn bedeutet, wenn sein Vater wegen eines Verbrechens gegen die Menschlichkeit zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt wird.

Intellektuell und kulturell war Richard von Weizsäcker in der "Zeit" zu Hause. Er und Marion Gräfin Dönhoff bildeten mit anderen Freunden die protestantische Mafia, wie sie halb bewundernd, halb verwundert genannt wurde.

Gemeint war damit ein britisch verstandener Pragmatismus, der politisch die Konsequenzen aus Adolf Nazi, wie Helmut Schmidt die zwölf Jahre zusammenfasste, für die Nachkriegsrepublik zog: Versöhnung mit den Kriegsgegnern, Verzicht auf verlorene Gebiete, Verankerung in Europa und im atlantischen Bündnis. Dazu die Hoffnung, irgendwie, auf Vereinigung der zwei deutschen Staaten. Die protestantische Mafia wollte immer auch publizistisch die Regierenden beraten und erziehen. Dieser Ehrgeiz hört sich heute seltsam an, aber damals war es ein erfolgreiches journalistisches Projekt.

Kohl konnte regieren, Weizsäcker blieb nur das Wort

Die Gelegenheit, so zu wirken, wie er es für richtig hielt, bekam Richard von Weizsäcker, als er Bundespräsident wurde - genauer gesagt hat er sich das Amt von Kohl ertrotzt. Kohl und Weizsäcker, Kanzler und Präsident: Besonders nahe waren sich die beiden schon lange nicht mehr.

Daraus entstand Fremdheit, und aus Fremdheit entstand Ressentiment, die in Weizsäckers Urteil gipfelte, der andere sei machtversessen und machtvergessen. Dieser Bundespräsident ertrug es nur schwer, dass ihm das Wort und nichts als das Wort blieb, während Kohl regierte, was aus Weizsäckers Sicht hieß: stümperte.

Wir Journalisten haben das Drama beschrieben und genossen. Aber die Geschichte schreibt ein anderes Urteil: Für Deutschland waren beide gut, Richard von Weizsäcker mit seiner Gedankenkraft, Helmut Kohl mit seiner Kraft 1989.

Ich habe Richard von Weizsäcker in den letzten Jahren immer mal wieder von ferne gesehen. Die Beine, die Beine, sagte er, seit ein paar Jahren konnte er nicht mehr Ski fahren, das muss ein Lebenseinschnitt gewesen sein. Jetzt ist er tot. Wäre schön, wenn er versöhnt eingeschlafen wäre.

Der Autor

Gerhard Spörl, Jahrgang 1950, lernte Richard von Weizsäcker in den Achtzigerjahren in Bonn kennen. 1990 kam Spörl zum SPIEGEL, er war Politikchef "Inland", Korrespondent in Washington und Ressortleiter "Ausland". Heute verantwortet er den Bereich Meinung beim SPIEGEL.

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