Zum Tod Richard von Weizsäckers Ein einziger, befreiender Satz

Richard von Weizsäcker
Foto: MARCO-URBAN.DEKein anderer Bundespräsident hat dieses Amt so sehr gelebt, verkörpert und geprägt wie Richard von Weizsäcker. Kein anderer Politiker der deutschen Nachkriegsgeschichte - von wenigen Ausnahmen wie Konrad Adenauer und Helmut Schmidt abgesehen - hat auch nach dem Ausscheiden aus dem Amt so viel Zustimmung, ja Verehrung erfahren wie er. Am Samstag ist Weizsäcker im Alter von 94 Jahren gestorben. Er hat in seinem politischen Wirken Maßstäbe gesetzt, die auch über seinen Tod hinauswirken.
Letztendlich war es eine glänzend formulierte und vollendet vorgetragene Rede, ja eigentlich sogar nur ein Satz in dieser Rede, mit dem Richard von Weizsäcker sich in die deutschen Geschichtsbücher geschrieben hat:
"Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung."
Für die damalige Bundesrepublik war auch dieser Satz eine Befreiung, die Rede ein - wie Helmut Schmidt zu Weizsäckers 90. Geburtstag befand - "historisch glücklicher Moment".
Weizsäcker hielt seine Rede 1985 und zu einem Zeitpunkt, zu dem Historiker wie Hans Mommsen in Teilen der CDU/CSU und ihrer Klientel die Tendenz einer "Rückwärtsrevision des Geschichtsbildes" feststellten. Nach den Jahren der Friedens- und Entspannungspolitik Willy Brandts und Helmut Schmidts glaubte die sogenannte Stahlhelmfraktion in der Union, nun unter einem Kanzler Helmut Kohl wieder Oberwasser zu haben.
Kohl selbst hatte dem mit zweideutigen Reden und Gesten Vorschub geleistet: In einer Rede vor dem israelischen Parlament hatte er die verhängnisvolle, Schuld limitierende Formel von der "Gnade der späten Geburt" geprägt. Er hatte US-Präsident Ronald Reagan zu einem Treffen auf dem Bitburger Friedhof genötigt, auf dem auch SS-Soldaten beerdigt sind - ein instinktloser Akt, der unnötig Misstrauen gegen die Deutschen schürte. Er nahm erst spät Anstoß am Motto eines Schlesier-Treffens, zu dem er sich angesagt hatte: "Schlesien bleibt unser". Er pfiff Kanoniere der "Stahlhelmfraktion" wie Herbert Hupka nicht zurück, in dessen Hauspostille "Der Schlesier" Roosevelt und Churchill als "Kriegsverbrecher" beschimpft wurden.

Richard von Weizsäcker: Der ideale Präsident
Nur wenige Jahre nach der von ihm angekündigten "geistig-moralischen Wende" hatte Kohl mit der verschleiernden und verharmlosenden Formel, die Naziverbrechen seien "im deutschen Namen" begangen worden, die Gesamtverantwortung und Schuld Deutschlands und der Deutschen wieder zur Diskussion gestellt - und alte Ängste vor der scheinbar so gemütlichen Bonner Republik ebenso wieder belebt wie die Hoffnung der Ewig-Gestrigen auf Relativierung des Schreckens.
Richard von Weizsäcker am 8. Mai 1985 im Bundestag.
In dieser historischen Situation hat Weizsäcker mit seinem klaren Bekenntnis zu Aussöhnung, Entspannung und Frieden ein Zeichen gesetzt, hinter das es kein Zurück mehr geben konnte. Der damalige Oppositionsführer Hans-Jochen Vogel dankte dem Bundespräsidenten ausdrücklich, weil seine Rede "vieles zurechtgerückt hat, was in bedrückender Weise ins Zwielicht geraten war". Und in Osteuropa - vor allem in Polen - atmeten die Menschen ob dieses eindeutigen Bekenntnisses des deutschen Staatsoberhauptes erleichtert auf.
Weizsäcker selbst hat - gewiss nicht ohne eine gewisse Koketterie - einmal gesagt, er habe an jenem 8. Mai 1985 im Deutschen Bundestag "nicht eigentlich neue Einsichten" verkündet. In der Tat hatte schon der erste Bundespräsident Theodor Heuss den 8. Mai 1945 einen Tag der bitteren Niederlage und der Befreiung genannt. Doch in jenen jungen Jahren der Republik gab es offensichtlich Wichtigeres als den Disput über Niederlage und Befreiung. Sogar Helmut Kohl hatte nur wenige Tage vor Weizsäcker den 8. Mai als einen Tag der Befreiung bezeichnet. Doch der Kanzler fand mit dieser Aussage so gut wie kein Echo. Vielleicht, weil er, der Meister des vagen Wortes, nicht glaubwürdig genug war?
Weizsäcker dagegen hat mit dieser einen Rede, nur ein Jahr nach seiner Wahl zum Bundespräsidenten "weltweit ein Vertrauen geschaffen, das wir gerade in den Jahren 1989 und 1990 brauchten", vermerkte Hans-Dietrich Genscher später in seinen Erinnerungen. Auch innenpolitisch hat Weizsäcker mit dieser einen Rede die Koordinaten verschoben: Die Selbstwahrnehmung der Bundesrepublik, so urteilt Joschka Fischer, habe sich "auch im konservativ denkenden Teil der Gesellschaft verändert". Deutschland habe sich an jenem 8. Mai 1985 "seiner historischen und moralischen Verantwortung für die Verbrechen des Nationalsozialismus gestellt".

Von 1949 bis heute: Die Bundespräsidenten
Vielleicht war es einer dieser glücklichen Zufälle der Geschichte, dass sie den richtigen Mann zum richtigen Zeitpunkt an den richtigen Platz gestellt hatte: Der am 15. April 1920 in Stuttgart geborene Richard von Weizsäcker stammte aus einer alten württembergischen Beamten- und Politikerfamilie. Er war weltgewandt, Jurist, Protestant, ein hervorragender Repräsentant des aufgeklärten deutschen Konservatismus. In der Wirtschaft hatte er bereits Karriere gemacht, als er 1966 in den CDU-Bundesvorstand gewählt wurde.
Unbequem ist er für seine Partei immer gewesen
Schon 1962 trat er für die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze ein, zum Entsetzen der treuesten Unionsklientel, der Heimatvertriebenen. "Weizsäckers Annäherung an den deutschlandpolitischen Kurs der SPD war mit Händen zu greifen", schreibt Kohl in seinem 2000 veröffentlichten Tagebuch. Weizsäcker unterstützte offen den Entspannungskurs Willy Brandts, warb als Kirchentagspräsident für Aussöhnung und Vergebung, arbeitete mit dem SPD-Politiker Erhard Eppler die letzte gemeinsame Denkschrift der evangelischen Kirchen in der DDR und der Bundesrepublik "Friedensaufgaben der Deutschen" aus - und machte trotzdem, von Kohl immer wieder protegiert, Karriere in der CDU: Bundestagsabgeordneter, Bundestagsvizepräsident, Regierender Bürgermeister von Berlin und schließlich - als Erfüllung seines politischen Lebens - Bundespräsident.
Geprägt hatte ihn das Grauen des Krieges, das er ebenso schrecklich und hautnah erfahren hatte wie die Verstrickung seines Vaters in die Nazi-Verbrechen. Er war vom ersten Tag des Krieges an der Front, hat im Osten und im Westen gekämpft, war bei der Belagerung Leningrads dabei, wurde zweimal verwundet und war am Ende des Krieges Hauptmann. Schon am zweiten Kriegstag war sein Bruder Heinrich in Polen gefallen, nur wenige Hundert Meter entfernt von ihm. Gegen Ende des Krieges bekam Weizsäcker Kontakt zur Widerstandsgruppe um Claus Graf Schenk von Stauffenberg.
Sein Vater, Ernst von Weizsäcker, dagegen war als Staatssekretär im Auswärtigen Amt und SS-Brigadeführer aktiv in die Verbrechen der Nazis verstrickt und ist im Nürnberger Prozess wegen seiner Mitwirkung an der Deportation französischer Juden nach Auschwitz als Kriegsverbrecher verurteilt worden. Der junge Jurist Richard von Weizsäcker hatte seine Verteidigung übernommen. Wie viele andere seiner Generation stand er "viel zu jung vor immer neuen Abgründen", schrieb später die mit ihm eng befreundete Marion Gräfin Dönhoff über diese Phase in seinem Leben - und aus diesem persönlichen Erleben und Erleiden wuchsen sein Gefühl und sein Gespür für Schuld, Sühne und Versöhnung.
"Erinnern heißt, eines Geschehens so ehrlich und rein zu gedenken, dass es zu einem Teil des eigenen Inneren wird", sagte er einmal - und lebte in seinem politischen Leben nach dieser Maxime:
Versöhnung wurde sein selbsterteilter Auftrag
Doch nicht nur durch seine Lebensgeschichte und durch diese eine Rede war Richard von Weizsäcker schon ein knappes Jahr nach seinem Amtsantritt als Bundespräsident in Helmut Kohls Pantoffel-Republik zur moralischen Autorität geworden: Er war - für die Bundesrepublik in dieser Form bis heute einmalig - der intellektuelle Gegenentwurf zum Kanzler, und er hat diese Rolle auch gerne angenommen. Im privaten Leben war er zwar oft unbeherrscht, hochfahrend und anmaßend. Untergebene schurigelte er zuweilen aus nichtigem Anlass. Doch seine öffentlichen Auftritte inszenierte Weizsäcker untadelig.
Im Gegensatz zu Kohl war er ein glänzender Redner. Sein Auftreten war stets formvollendet. Wo Kohl biedermännische Jovialität verströmte, umgab von Weizsäcker der Hauch von Noblesse und Würde. "König Silberlocke" oder "Ersatzkaiser" wurde er mit liebevollem Spott genannt. Ihm gegenüber habe er "spürbare Distanz", ja "geradezu unverhohlene Reserviertheit" gezeigt, wütete Kohl später voll Verachtung in seinem "Tagebuch".
Er vermutete Weizsäcker auch - und wohl nicht zu Unrecht - als Drahtzieher hinter dem Putschversuch einer Gruppe von CDU-Größen um den damaligen Generalsekretär Heiner Geißler, die 1989 vergeblich versucht hatte, Kohl zu stürzen. Als der Ex-Bundespräsident sich in Kohls Spendenaffäre im Jahr 2000 erneut kritisch zu Wort gemeldet hatte, giftete der Ex-Kanzler: "Seinen Angriff gegen mich führt er in der ihm eigenen subtilen und vornehmen Weise. Die offene Feldschlacht ist nichts für ihn. Aber im Kamingespräch die Pfeile an die richtige Stelle zu setzen, das ist sein Stil."
Die immer offener ausgetragene Gegnerschaft dieser beiden Männer hat Weizsäcker nicht geschadet. Im Gegenteil: Er wurde nur immer beliebter, auch nachdem er 1994 aus dem Amt geschieden war. Bis an sein Lebensende blieb er ein - oft unbequemer - Mahner und Warner. Seine Interviews, seine Reden behielten Gewicht, waren Kompass und Maßstab.
Die Verfassung der Bundesrepublik Deutschland setzt den Wirkungsmöglichkeiten des Bundespräsidenten ziemlich enge Grenzen. Faktisch hat er sogar weniger gestaltende Möglichkeiten als das Bundesverfassungsgericht, urteilt der Politikwissenschaftler Hans-Peter Schwarz. Seine mächtigste Waffe ist das Wort. Richard von Weizsäcker hat es genutzt wie kaum ein anderer. "Wer die Sprache hat, Wirklichkeit präzise zu beschreiben und zu deuten, kann sie auch verändern", hat sein alter Mitstreiter aus seiner Zeit als Kirchentagspräsident Erhard Eppler einmal gesagt. "Richard von Weizsäcker hat dies am 8. Mai 1985 getan" - mit einer einzigen Rede, eigentlich sogar mit einem einzigen Satz nur.