Kanzlerfrage bei den Grünen Sie oder er?

Robert Habeck und Annalena Baerbock führen die Partei nun für zwei weitere Jahre
Foto: INA FASSBENDER/ AFPSie hat es geschafft. Annalena Baerbock hat das beste Ergebnis jemals bei einer Vorsitzendenwahl der Grünen geholt. 97,1 Prozent der Delegierten auf dem Parteitag der Grünen in Bielefeld haben sie gewählt. Sie steht vorn am Rednerpult. "Vielen Dank, ich nehme die Wahl an. Mir fehlen die Worte, mir kommen die Tränen. Danke", sagt sie und zieht eine Schulter hoch, sieht fast verlegen aus, für einen Augenblick.
Baerbock hat zuvor eine außerordentlich gute Rede gehalten. Über Verantwortung, den Wirtschaftsstandort Deutschland, sie spricht sich für eine Europäische Armee aus. Aber sie redet auch darüber, wie es ist, als Frau in der Politik eine Führungsrolle zu übernehmen: "Wenn Mann die Argumente ausgehen, wird Frau reduziert aufs Geschlecht", sagt sie.
Plötzlich werde die Schnelligkeit des Sprechens (sie spricht an dieser Stelle schneller) oder die Höhe der Stimme (ihre Stimme wird höher) oder, sie macht eine Pause, die Zickigkeit zum Gradmesser für Kompetenz erklärt. Sie sei dankbar für ihre Partei - für die Statuten und die Satzung. Für die Vorgängerinnen, die vielen starken Frauen. Es ist der Höhepunkt ihrer Rede. Der Saal tobt, fast 800 Delegierte jubeln ihrer Vorsitzenden zu.
In diesem Moment ist die Zuneigung, die ihre Partei für sie spürt, fast greifbar.
Ihr Co-Parteichef Robert Habeck spricht nach ihr. Er versucht erst gar nicht, ihre Rede zu toppen. In den ersten anderthalb Minuten erwähnt er Baerbock vier Mal. Dann beschwert er sich mindestens implizit darüber, wie das Duo behandelt worden sei. Es sei das eine, die Partei von einem gemeinsamen Zentrum aus zu lenken. "Aber etwas anderes ist es dann doch, Tage wie diese zu erleben, wo man permanent miteinander abgeglichen wird, wo man permanent miteinander verglichen wird", sagt er. Aber: "Je größer die Zentrifugalkräfte waren, die uns geschleudert haben, umso stärker haben wir uns zusammengeschweißt."
Er spricht sechseinhalb Minuten, nutzt seine Redezeit von 10 Minuten nicht voll aus. Am Ende erhält er 90,4 Prozent der Stimmen. Es ist ein sehr gutes Ergebnis. Trotzdem bleibt hängen: Er hat im Vergleich zu Baerbock über sechs Prozentpunkte weniger geholt.
Die Rede ist Habecks Art, damit umzugehen, dass diese Wahl als Stimmungsbarometer für eine mögliche Kanzlerkandidatur der Grünen gilt. Vielleicht ist es auch seine Strategie, der Diskussion den Raum zu nehmen.
Wer kann Kanzlerkandidat?
Doch die Frage bleibt: Wer könnte die Partei besser in eine Bundestagswahl führen, Habeck oder Baerbock? Darauf geben führende Grüne derzeit immer eine Variation derselben Antwort: Das stehe nun noch nicht an, man werde sich zu einem gegebenen Zeitpunkt äußern. Regulär wird schließlich erst in zwei Jahren gewählt.
Naja, fast immer. Als Harald Schmidt im Gespräch mit Winfried Kretschmann vor wenigen Wochen die entsprechende Frage stellt, legt er sich fest. Es solle Habeck werden, der sei ein Kommunikator und verfüge zudem als früherer Umweltminister von Schleswig-Holstein über Exekutiverfahrung. Baerbock erwähnt er nicht.
Kretschmann gilt als streitbar, äußert sich häufiger diametral zur Linie der Bundespartei. Doch selbst für Kretschmann gilt diese Äußerung in der Partei als grober Fehler. Warum Kretschmann überhaupt geantwortet hat, ist völlig unklar. Seine Antwort katapultierte die K-Frage schneller als geplant auf die Tagesordnung der Partei zurück. Er muss zurückrudern, die Grünen könnten sich freuen, dass sie zwei Bundesvorsitzende hätten, die kanzlerkandidatenfähig seien, sagt er der "Süddeutschen Zeitung".
Aber die Frage treibt die Partei um. Seit dem Sommer 2018 liegen sie in Umfragen konstant vor der SPD, bei der Europawahl im Mai holten sie 20,5 , die SPD nur 15,8 Prozent der Wählerstimmen. Offensichtlich können sie es nicht zulassen, dass die Sozialdemokraten einen Kanzlerkandidaten aufstellen und sie nicht - gesetzt den Fall, die Umfragen bleiben, wie sie sind.
Doch die Grünen haben Angst davor, sich frühzeitig dafür auszusprechen, überhaupt einen Kandidaten aufzustellen. Zu tief sitzt das Trauma von 2013. Mitte der Legislatur, nach Fukushima, lagen sie in den Umfragen bei 29 Prozent. Dann stürzten sie ab, holten bei der Bundestagswahl nur 8,4 Prozent der Stimmen.
Trotzdem ist es eine sehr ernstzunehmende Frage, wer die Kandidatur besser ausfüllen könnte. Baerbock gilt als sehr kompetent, stets gut vorbereitet und als integrierend. In der Partei hat sie mehr Rückhalt als er, das zeigt auch das Wahlergebnis. Claudia Roth sagte einmal über sie : "Annalena ist die Wurzel unseres Baums." Habeck gilt als machtbewusst und charismatisch, als einer, der eine andere Sprache pflegt. Zudem war er stellvertretender Ministerpräsident und Umwelt- und Landwirtschaftsminister von Schleswig-Holstein.
Ihr fehlt die Regierungserfahrung, ihm die Tiefe bei manchen Themen
Die fehlende Regierungserfahrung ist Baerbocks größtes Manko. Sie hat bislang nur ihre Partei geleitet - trotz wachsender Mitgliederzahlen sind die Grünen noch immer eine relativ kleine Organisation. Vor allem im Vergleich mit der gesamten Bundesrepublik.
Habeck hat zwar Regierungserfahrung, aber er ist weniger berechenbar als sie. Ein Mitglied der Grünen Jugend, der Habeck bei einer Veranstaltung über alternative Wirtschaftsformen erlebt hatte, beschrieb seinen Eindruck einmal so: "Ich habe ihn dort als sehr inkompetent erlebt. Er hatte wenig Ahnung, aber wollte trotzdem immer etwas sagen."
Habecks Markenzeichen ist seine Art, mit anderen über Politik zu sprechen, als sei er selbst einer von ihnen, als sei er kein Berufspolitiker. Manchmal führt das zu Schnitzern - wie bei der Pendlerpauschale. Habeck musste live im Fernsehen zugeben, dass er sie nicht vollständig durchdrungen hatte. Obwohl sie eigentlich zum kleinen Einmaleins der Profipolitiker gehört. Seine beinah rotzige Nonchalance droht für ihn zum Problem zu werden.
Andererseits haben Habecks Fehler seiner Beliebtheit in der Vergangenheit keinen Abbruch getan. Und noch immer ist er bekannter als Baerbock: Ihn kennen laut der letzten SPIEGEL-Politikertreppe 66 Prozent der Bundesbürger, sie nur 54 Prozent. Baerbock hat in der Partei zwar ein hervorragendes Standing, außerhalb aber verfügt er über eine stärkere Strahlkraft.
Eines aber hat sie mit ihrer Rede bewiesen: Sie kann rhetorisch mit Habeck mithalten. Eine gewisse Lässigkeit ist ihr im Umgang mit der K-Frage auch zuzutrauen. Vielleicht verzichtet sie im übernächsten Jahr auch freiwillig auf eine Kanzlerkandidatur, sollte sie dann noch anstehen. Baerbock hat Zeit. Und es ist mitnichten ausgemacht, dass die Grünen bei der Bundestagswahl in zwei Jahren vor der Union landen. In einem potentiellen schwarz-grünen Kabinett könnte Baerbock Regierungserfahrung auf Bundesebene sammeln.
Mal gesponnen: Sollten die Grünen 2025 mit Baerbock als Kanzlerkandidatin die Mehrheit holen, wäre sie trotzdem erst 45 Jahre alt - und damit auch dann noch die bislang jüngste Kanzlerin der Bundesrepublik.