Grüne Flügelkämpfe Plötzlich in Unordnung
Mit Robert Habeck und Annalena Baerbock drängen zwei Realos an die Grünen-Spitze - und stellen ungeschriebene Gesetze infrage: Droht ein neuer Flügelkampf?
Glückliche Grüne - so geschlossen, so harmonisch präsentierte sich die Ökopartei zuletzt. Jamaika geplatzt? War da was? Beim Parteitag vor zwei Wochen in Berlin war die Selbstzufriedenheit kaum auszuhalten.
Plötzlich aber ist alles anders, bei den Grünen gerät etwas in Bewegung. Am Wochenende verkündete erst die Brandenburger Bundestagsabgeordnete Annalena Baerbock, als Parteivorsitzende kandidieren zu wollen. Kurz darauf zog der Kieler Umweltminister Robert Habeck nach: Auch er will an die Spitze.
Ende Januar findet die Wahl statt. Und die Wochen bis dahin versprechen spannend zu werden. Denn die Bestrebungen von Baerbock und Habeck können als Angriff auf das komplizierte, aber sorgsam gepflegte Proporzgefüge der Grünen gewertet werden. Wird die Partei am Ende ihr ungeschriebenes Gesetz aushebeln, nach denen sich Realos und Parteilinke die Spitzenposten in Partei und Bundestagsfraktion teilen?
Dass Habeck seinen Hut in den Ring wirft, war erwartet worden. Der amtierende Parteichef Cem Özdemir hatte sich bereits für den 48-Jährigen als seinen Nachfolger ausgesprochen. Aber mit der Kandidatur Baerbocks entsteht neue Bewegung: Wie Habeck wird auch die 36-Jährige Klimaexpertin dem Realoflügel der Grünen zugeordnet - eigentlich.
Jetzt allerdings präsentieren sich beide als Kandidaten für die Gesamtpartei, so erklärten es sowohl Habeck als auch Baerbock ausdrücklich. Die Grünen müssten die Flügelstreitigkeiten endlich hinter sich lassen, so ihr Credo.
Ein Anspruch, der großen Konfliktstoff birgt. Für viele Grüne ist die Lagerarithmetik kein Selbstzweck, sondern notwendig, um die Partei überhaupt zusammenzuhalten. Und bisher war es bei den Grünen in den vergangenen Jahren eben nicht nur üblich, dass sich ein Mann und eine Frau die Doppelspitze teilen. Es müssen auch noch beide Flügel vertreten sein.
Was bedeutet die neue Lage?
Habeck und Baerbock schätzen sich gegenseitig. Aber würde der linke Flügel zulassen, dass die beiden die Partei führen? Bisher hat aus diesem Lager nur die amtierende Parteichefin Simone Peter ihre erneute Kandidatur erklärt. Peter aber wird auch von linken Grünen kritisch gesehen. Sie ist durch den Schritt Baerbocks in Bedrängnis geraten. Es ist nicht völlig ausgeschlossen, dass sich die Parteilinken gegen Peter wenden - und die eloquente Baerbock als frisches weibliches Gesicht unterstützen.
Peter äußerte sich wie erwartet skeptisch: "Bisher sind wir gut mit der Quotierung nach Geschlechtern und Flügeln gefahren." Zugleich betonte sie: "Es ist gut, dass es uns Grünen nicht an geeignetem Spitzenpersonal mangelt, und auch ich werde mich einer Erneuerung nicht in den Weg stellen."
Was das heißt? Peter selbst sagt dem SPIEGEL: "Wichtig ist, dass die Partei jetzt geschlossen bleibt und ihre Vielfalt trotzdem abgebildet wird."
Sollte Peter ihre Kandidatur doch zurückziehen, müsste sich - für den Fall, dass der linke Flügel ein Duo Habeck und Baerbock noch verhindern wollte - eine andere linke Frau (oder ein linker Mann) vorwagen. Parteiintern fallen dafür etwa die Namen Agnieszka Brugger, Ska Keller, Katja Dörner oder Katharina Dröge.
Beenden die Grünen nun ihren Flügelkampf?
Die Grünen stehen vor wegweisenden Fragen: Wie bleibt man als kleinste aller im Bundestag vertretenen Parteien sichtbar? Muss man Neues wagen, um nicht ganz verloren zu gehen?
Habeck ist zuzutrauen, dass er auch Grüne vom linken Flügel mit seiner Erzählung von Aufbruch und Geschlossenheit zu sich zieht. Er ist beliebt und gilt als
authentisch. Gelingt es ihm allerdings nicht, die linke Basis zu überzeugen, ist seine Kandidatur mit einem weiteren Unsicherheitsfaktor verbunden. Denn eigentlich erlaubt die Parteisatzung nicht, dass ein Landesminister für längere Zeit gleichzeitig Parteichef ist. Habeck würde beide Funktionen aber gerne für etwa ein Jahr in Personalunion ausüben wollen. Die Satzung müsste vermutlich entsprechend geändert werden. Ob der linke Flügel dies mittragen würde, ist nicht ausgemacht.
Was passiert mit Cem Özdemir?
Der Kampf um den Parteivorsitz ist also eröffnet. Einer hat bereits erklärt, dabei nicht mehr mitzumachen. Oberrealo Cem Özdemir, der die Grünen seit neun Jahren führt, Spitzenkandidat bei den Bundestagswahlen war und maßgeblichen Anteil daran hatte, dass die Grünen bei den Jamaika-Sondierungen nach außen so professionell, geschlossen und konstruktiv rüberkamen.
Özdemir war für den Falle eines Bündnisses zwischen Grünen, FDP und Union als Minister gesetzt. Nun scheint es, als sei ausgerechnet für den populärsten Grünen kein Posten mehr übrig. Ein normaler Mensch könne das unmöglich verstehen, kommentierte jüngst bissig die "taz".
Wo könnte künftig Özdemirs Platz sein? Auch in diese Diskussion kommt Bewegung.
In den letzten Wochen gab es Spekulationen, Özdemir könnte nach Stuttgart wechseln, um dort irgendwann die Regierungsgeschäfte von Ministerpräsident Winfried Kretschmann zu übernehmen. Am Wochenende versuchte Kretschmann selbst, dieser Deutung zu widersprechen. Özdemir sei "Spitzenpolitiker in Bestform", der eine "führende Rolle" spielen solle - "im Bund" wohlgemerkt. Özdemir pflichtete in der "Stuttgarter Zeitung" bei: Er sehe seine Zukunft in Berlin.
Potenzielles neues Beschäftigungsfeld für Özdemir könnte die Fraktionsführung sein. Jedenfalls sähe Kretschmann Özdemir gerne dort, und der Angesprochene selbst sagte laut "Stuttgarter Zeitung" gewohnt staatsmännisch: "Ich diskutiere das nicht theoretisch. Wenn die Fraktion und die Partei sagen, dass sie mich brauchen, werde ich zur Verfügung stehen."
Nur: Sollte Özdemir tatsächlich für den Fraktionsvorsitz kandidieren, würde das die Unruhe wohl verstärken. Denn dass die Grünen auch im Bundestag von zwei Realos angeführt werden könnten, ist unwahrscheinlich, zumal Özdemir vom linken Flügel noch weiter entfernt ist als Habeck und Baerbock.
Und er müsste gegen seine Co-Spitzenkandidatin Katrin Göring-Eckardt antreten. Die hat genau wie der Parteilinke Anton Hofreiter bereits erklärt, die Fraktion weiter anführen zu wollen. Göring-Eckardts Wiederwahl galt bisher als sicher. Wenn außerdem, so wie es im Moment scheint, keine linke Frau gegen Hofreiter antreten würde, wären Özdemirs Erfolgsaussichten noch geringer.
Geht er dieses Risiko ein? Für Özdemir geht es am Ende um die Frage, ob er in der Politik und dort in der ersten Reihe bleiben will. Bekommt er nicht überraschend neuen Rückhalt aus der eigenen Partei, bliebe ihm dafür nur eine Hoffnung: Eine Große Koalition kommt nicht zustande, und die Grünen sind plötzlich wieder in einer anderen Rolle gefragt.
Denn Spitzenkandidat will Özdemir noch einmal werden - falls es zu Neuwahlen kommt.