Neues Grundsatzprogramm Grünen-Spitze will "vierte Phase" der Partei einläuten

Annalena Baerbock und Robert Habeck
Foto: Julian Stratenschulte/ picture alliance / Julian Stratenschulte/dpaEs soll die Geschichte einer Neuerfindung werden, vielleicht auch die einer Selbstfindung: Die Grünen wollen sich ein neues Grundsatzprogramm geben, die Debatte darüber startet jetzt. Das letzte Programm ist 16 Jahre alt. Damals regierten die Grünen noch mit, die Anschläge vom 11. September 2001 hatten die westliche Welt gerade erst aus der Zufriedenheit der Neunzigerjahre gerissen, und die Agenda 2010 war noch eine Idee von Peter Hartz.
Die Programmdebatte soll zwei Jahre dauern und wird an diesem Wochenende mit einem Startkonvent in Berlin beginnen. In der Parteizentrale ist dafür eigens eine neue Grundsatzabteilung für "Programm und Analyse" zuständig. Die Diskussionen sollen bis in den Herbst gehen, im Frühjahr 2020 soll der Prozess abgeschlossen sein und das neue Programm stehen.
Der Partei ist an ihrer Spitze der Wechsel gelungen, andere Parteien haben den noch vor sich. Nach den gescheiterten Jamaika-Sondierungen betonen nun alle die Aufbruchsstimmung. Die wollen die neuen Vorsitzenden Annalena Baerbock und Robert Habeck möglichst mit in die Grundsatzdebatte nehmen.
Eine neue Ära
Die Parteispitze, die seit Ende Januar im Amt ist, will nun eine neue Phase der Grünen einleiten. Sie kritisieren in ihrem Auftaktpapier, das dem SPIEGEL vorliegt, das Verhalten der eigenen Partei in den vergangenen Jahren. Seit man 2005 in die Opposition gehen musste, sei man in einer Art Spagat verharrt: auf der einen Seite Regierungspartei in vielen Ländern, auf der anderen Seite Oppositionspartei im Bund.
"Aber im Spagat kommt man nicht voran", schreiben die Chefs. Man brauche nun die gesamte Sprungkraft der Partei, um die neue, nach Protest-, Projekt- und Spagatpartei, "vierte Phase" der Grünen einzuläuten. Dabei wolle man die Chancen des technischen Fortschritts ergreifen und politische Fragen nicht auslagern. Es gehe ihnen nicht um "grüne Selbstvergewisserung", schreiben sie.
Das Papier der Grünen-Chefs gliedert sich in sechs Teilbereiche. Der erste widmet sich dem grünen Herzensthema Ökologie. Habeck und Baerbock fordern ein sozial-ökologisches Welthandelssystem. Sie wollen unter anderem über eine europäische Energieunion und eine ökologische Steuerreform reden.
Der zweite Bereich behandelt die Wirtschafts-und Sozialpolitik. Die Überschrift heißt "Der Mensch als Kapital oder das Kapital für die Menschen". Das zeigt schon: Habeck und Baerbock sehen als erste Priorität nicht die Freiheit des Marktes. Die Sozialpolitik der Grünen könnte unter den zwei Realo-Vorsitzenden eine linke Wendung erfahren. So schreiben sie: "Die inzwischen vorherrschende Art des Kapitalismus im Zeitalter der Digitalisierung ist in vielen Bereichen wieder eine primitive und zügellose, ähnlich der frühen Phase der Industrialisierung."
Die Lösung liegt in ihren Augen in einer Garantiesicherung, vor allem für Kinder und Jugendliche, aber man wolle auch über eine Garantiesicherung für alle diskutieren. Sie fordern außerdem neue Regeln für weltweit operierende Unternehmen.
Position zu Gentechnik hinterfragen
In der Digitalpolitik werden sie ungewohnt konkret und propagieren die Möglichkeit einer gesetzlichen Grenze für Datenbesitz für Unternehmen und ein Verknüpfungsverbot für persönliche Daten. Sie wollen außerdem über eine Erweiterung des Kartellrechts und neue Besteuerungsformen sprechen.
Einen ganzen Absatz widmen sie auch der Wissenschaft. Der ist überraschend und neu: Die Vorsitzenden wollen ihre Position zum Einsatz der Gentechnik in der Landwirtschaft hinterfragen. Man müsse sich überlegen, ob neue Technologien nicht auch helfen könnten, die Versorgung mit Nahrungsmitteln gerade dort zu garantieren, wo Klimawandel für immer weniger Regen sorge. Man wolle auch über den Einsatz von Gentechnik zur Bekämpfung von Krankheiten eine "offene und faire" Debatte führen.
Für die Grünen eine radikale Überlegung, weit von ihren sonst sehr konservativen Positionen beim Thema Gentechnik entfernt.
Den kleinsten Teil nimmt die Außen- und Sicherheitspolitik ein. Der Maßstab der Grünen seien die Menschenrechte. Man müsse nach dem Verhältnis der Europäischen Union zur Nato fragen, wenn einzelne Mitglieder in Kriegen zu Feinden würden.
Der letzte Teilbereich beschäftigt sich mit der Gesellschaft. Ohne Sicherheit gebe es keine Freiheit, das hätten nun auch die Grünen gelernt - es ist die Einsicht, dass das Thema innere Sicherheit nicht den konservativen Parteien überlassen werden darf.
Die Programmdebatte soll in diesen sechs Teilbereichen geführt werden. Man wolle sich verunsichern lassen und auf die Debatte einlassen. Habeck und Baerbock beenden ihr Papier mit einem Appell: "Das Politische selbst braucht einen Neustart", schreiben sie.