
Überfall auf die Ukraine Das Böse


Russlands Präsident Putin
Foto: Kremlin Pool/Kremlin Pool / imago images/ZUMA WireDie große Russland-Kennerin der USA, Fiona Hill, hat dieser Tage ein langes Interview gegeben und darin Putins Krieg in der Ukraine unter anderem als eine Kette von Momenten beschrieben, in denen man jedes Mal denkt: »Das kann er jetzt wirklich nicht machen.« Aber dann macht er es. »Denn er kann«, sagt Fiona Hill .
Ich finde, das beschreibt die Ohnmacht der Europäer (und Amerikaner) bislang am besten. Es ist die ehrbare Ratlosigkeit eines europäisch-westlichen Denkens, welches das schiere Böse hinausdefiniert hat aus der Vorstellungswelt des Möglichen, weil ja alle Regeln und Muster des Westens seit 1945 genau darauf zielten: Das schiere Böse ein für alle Mal zu bannen, militärisch, politisch und diplomatisch, mit Handel oder mit Kultur.
Um es so mindestens auf diesem Kontinent zehn Klafter tief unter der Erde zu vergraben, auf dass es nie wieder zum Vorschein komme.
Grausame, völlig sinnlose Kriege hat es seither viele gegeben auf der Welt. Aber fast nie in Europa, und wenn doch wie in den Neunzigerjahren des ehemaligen Jugoslawiens, dann waren USA und Europäer stark genug, sie irgendwie zu beenden und Frieden zu schaffen, und sei es mit der Aufnahme in die Europäische Union.
Dass aber eine atomgerüstete Supermacht einen großen Krieg in Europa beginnt, konnte in diesem Rahmen nicht vorkommen, was, wie wir heute wissen, an unserer Vorstellung von diesem Rahmen lag.
So wurde der Ukrainekrieg zur Mutter aller Fiona-Hill-Momente: »He can't be doing this.« Doch, Wladimir Putin kann, denn mit dem Europa der Nachkriegszeit und der Gegenwart hat er gebrochen.
Er denkt und handelt wie in jener Vorzeit, als Herrscher Grenzen auf Landkarten malten und das Böse nicht eingehegt war, sondern frei und real: Panzer rollen. Raketen zerstören Wohngebäude. Städte werden belagert, in die man mit Easyjet fliegen konnte.
Das macht etwas mit vielen von uns. Und zwar nichts Gutes.
Da ist zum Beispiel die sehr deutsche Debatte darüber, ob Wladimir Putin schon immer das Böse war und es nur über die langen Jahre der Kooperation und des Dialogs erfolgreich verschleiert hat. Demnach müsse, wer wie Putin heute monströs Böses tut, es von Anfang im Schilde geführt haben, weil es so monströs böse ist.
So zu schlussfolgern, ist freilich lachhaft unterkomplex und unterschlägt zuhauf die Hinweise auf das Gegenteil: dass Putin nämlich keineswegs in gerade Linie von seiner Rede im Deutschen Bundestag im Jahr 2001 zum Vernichtungskrieg in die Ukraine marschiert ist.
Trotzdem ist diese Denke arg verführerisch, weil sie suggeriert, der Westen müsse nur seine (vermeintliche) Verweichlichung abschütteln und »aufwachen«. Entlang dieser Logik empfiehlt der Vorstandsvorsitzende eines großen deutschen Medienkonzerns in einem Kommentar, den Dritten Weltkrieg zu beginnen, um den Dritten Weltkrieg zu verhindern. All in, kleiner mag er das Böse nicht herausfordern, weil wir Deutschen uns viel zu lange kleingemacht hätten.
Doch die atomare Abschreckung mit ihrer wechselseitig garantierten Vernichtung im Falle des Falles war immer nur eine Mischung aus Wahnsinn und Rationalität, etwas Heroisches hatte sie nie. Das haben stattdessen die Molotowcocktails, die die Bürger von Kiew und Charkiw gerade vorbereiten, um in ihren Städten gegen russische Panzer zu kämpfen.
Ein amerikanischer Senator wiederum fordert, ein Tötungskommando auf Putin anzusetzen. Vielleicht wie einst auf Osama Bin Laden, obwohl eine islamistische Terrortruppe etwas anderes ist als eine atomar gerüstete Supermacht? Osama Bin Laden wohnte lange in einer Höhle, Wladimir Putin tritt dreimal die Woche im Fernsehen auf. Was kommt als Nächstes? James Bond?
Was aus diesen Vorschlägen spricht und auch aus dem Exorzismus Gerhard Schröders in der SPD, wo er auf der Internetseite bis vergangene Woche noch als einer von 34 großen Sozialdemokraten in der Ehrengalerie geführt wurde und mittlerweile gestrichen ist – das ist im besseren Fall ratlose Ohnmacht und im schlechteren sesselfurzender Gratis-Mut.
Denn, nein, Europa und Amerikaner müssen sich nicht neu erfinden. Auch auf das Böse gibt es für den Westen keine andere Antwort, als eben der Westen zu sein: Den internationalen Finanzkapitalismus und den Welthandel wie eine Garrotte zu bedienen, darauf versteht man sich eben besser als auf Killerkommandos oder atomare Erstschläge. Und das ist auch gut so.
Um eine abschreckungsfähige Aufrüstung werden weder Deutschland noch die EU herumkommen, doch kurzfristig kann es, wenn überhaupt, nur höhere Dosen von den bereits in Anschlag gebrachten Mitteln geben.
Dazu gehört theoretisch auch ein Totalboykott der russischen Gas- und Öllieferungen. Aber trotz der Schuld, in der wir bei den Ukrainern stehen, geht es nicht darum, ob die Maßnahmen uns mehr wehtun als dem Kremlchef und Russland. Es geht darum, ob sie ihnen in einer Weise wehtun, dass sie ablassen vom Krieg.
Und darum ist zu fragen: Muss der Kreml den Krieg ohne Devisen wirklich beenden, obwohl er ihn überwiegend mit in Russland produzierten Waffen und dort zum Dienst gepressten Rekruten führt? Mit Devisen kauft Putin auch keine speziellen Ersatzteile für seine Waffenfabriken, die stehen seit Langem unter Embargo. Mit Devisen kauft er, was die Regale in Russlands Supermärkten füllt. Um Putin zu stürzen, wäre ich bereit, weniger zu heizen. Aber nicht, damit sich in Wahrheit nur ein paar deutsche Politiker oder Leitartikler fühlen können wie der dicke Max.
Kurzum: Selten war ein Konflikt derart kristallklar nach »Gut und Böse« geschnitten. Und der Westen, Europa und Amerika, werden beweisen müssen, dass das Gute am Ende, schrecklich archaisch, »stärker« ist als das Böse, das einen Namen durchaus trägt: Putin.