S.P.O.N. - Der Schwarze Kanal Italienische Fahrerflucht

Volkscharakter sei eine Erfindung von gestern, lernen wir schon in der Schule, Klischees über Nationen hätten ausgedient. Aber ist das wirklich so? Unzeitgemäße Gedanken anlässlich der Irrfahrt eines italienischen Kapitäns.

Hand aufs Herz: Hat es irgendjemanden überrascht, dass der Unglückskapitän der "Costa Concordia" Italiener ist? Kann man sich vorstellen, dass ein solches Manöver inklusive sich anschließender Fahrerflucht auch einem deutschen oder, sagen wir lieber, britischen Schiffsführer unterlaufen wäre?

Man kennt diesen Typus aus dem Strandurlaub: ein Mann der großen Geste und sprechenden Finger. Im Prinzip harmlos, man sollte ihn nur nicht zu nahe an schweres Gerät lassen, wie sich zeigt. "Bella figura" machen, heißt der italienische Volkssport, bei dem es darum geht, andere zu beeindrucken. Auch Francesco Schettino wollte eine gute Figur machen, leider war ihm ein Felsen im Weg.

Okay, das war jetzt sehr unkorrekt. Wir haben uns seit langem abgewöhnt, im Urteil über unsere Nachbarn kulturelle Stereotypen zu bemühen. Das gilt als hinterwäldlerisch, oder, schlimmer noch, rassistisch (auch wenn, um im Bilde zu bleiben, nicht ganz klar ist, inwieweit das Italienische an sich schon eine eigene Rasse begründet).

Mit dem Nationalcharakter verhält es sich wie mit dem Geschlechterunterschied. Eigentlich ist er längst abgeschafft, aber im Alltagsleben stoßen wir trotzdem ständig auf ihn. Man muss nur einmal einen Nachmittag im Kindergarten verbracht haben, um alles anzuzweifeln, was uns die aufgeklärte Pädagogik über das Geschlecht als soziales Konstrukt lehrt. Tatsächlich lebt eine ganze Schattenindustrie sehr auskömmlich vom Unterschied zwischen Mars und Venus und wie man am besten damit zurechtkommt. Das Pendant zu solchen Anleitungen ist der Reiseführer, der einen in die Eigenheiten und damit Typologie fremder Kulturen einführt.

Irgendwie steckt in uns bis heute medial gesehen der Hunne

Vor allem die Deutschen haben ein Problem mit kulturellen Zuschreibungen. Die Engländer zum Beispiel halten uns bis heute nicht für besonders humorbegabt - trotz der jahrelangen Bemühungen von Komikgiganten wie Mario Barth oder, Achtung Kabarett, Hagen Rether. Die Franzosen wiederum machen sich über die britische Küche lustig und die Belgier über den angeblichen Geiz der Niederländer.

Wir kennen den Volkscharakter nur in seiner negativen Variante, als Selbstbezichtigung. Kaum brüllen irgendwo ein paar Jugendliche dummerhafte Parolen, kreuzt der Konfliktforscher Wilhelm Heitmeyer in der Presse auf und erklärt, warum der soziale Friede gefährdet ist ("explosive Situation") und ein Rückfall kurz bevor steht.

Irgendwie steckt in uns bis heute medial gesehen der Hunne, der nur darauf wartet, wieder loszuschlagen, das funktioniert seltsamerweise immer.

Man muss keine Vererbungslehren bemühen, um zur Auffassung zu gelangen, dass sich Nationen unterscheiden. Es gibt dafür klimatische Gründe, auch Sprache spielt eine Rolle. Normalerweise ist das nicht weiter von Belang, man sollte nur keine Politik auf der Annahme begründen, dass Grenzen lediglich im übertragenen Sinn noch ihre Bedeutung haben. Was passieren kann, wenn man aus politischen Gründen von der Psychologie der Völker absieht, zeigt die Währungskrise, die uns in diesen Tagen ja nur deshalb aus den Augen geraten ist, weil der Mann im Schloss alle Aufmerksamkeit auf sich zieht. Der Fels vor dem Schiff ist hier der Zinssatz des Marktes.

Geburtsfehler des Euro? Die Zwangsjacke für verschiedene Kulturen

Wenn jetzt allenthalben von der unterschiedlichen Leistungsfähigkeit der Länder die Rede ist, dann ist das die um alles Anstößige bereinigte Art zu sagen, dass bestimmte Klischees eben doch ihre Berechtigung haben. Der Geburtsfehler des Euro war, sehr verschiedene Kulturen des Wirtschaftens in die Zwangsjacke einer gemeinsamen Währung zu sperren.

Um zu erkennen, dass dies nicht gutgehen konnte, musste man nicht Volkswirtschaft studiert haben, ein Besuch in Neapel oder auf dem Peloponnes hätte eigentlich gereicht. Nun sucht man händeringend nach einer Lösung. Die Antwort der Kanzlerin ist, dass alle so werden wie wir; man wird sehen, wie weit sie damit kommt.

Nationen können sich ändern, darin liegt, wenn man so will, der Trost. Die Italiener haben vor 2000 Jahren noch ein Weltreich befehligt, das von England bis Afrika reichte. Die Deutschen haben inzwischen Mühe, bei zu viel Schnee und Eis den Bahnverkehr aufrechtzuerhalten. Es dauert nur eben mitunter sehr lange, bis sich einige Klischees abnutzen. Manchmal braucht es dazu einige Generationen.


Der Botschafter der Italienischen Republik, Michele Valensise, hat uns zu der obenstehenden Kolumne folgenden Brief geschickt:

Über den Artikel von Jan Fleischhauer mit dem Titel "Italienische Fahrerflucht" bin ich verwundert und verärgert. Natürlich glaube ich an die Freiheit der Kritik, aber die Themen dieses Artikels sind ebenso beleidigend für Italien wie unbegründet. Es erstaunt mich, dass eine angesehene Zeitung wie SPIEGEL ONLINE Raum für so vulgäre und banale Behauptungen bietet.

Betroffen macht vor allem, dass der Journalist neben vielen Gemeinplätzen die Verantwortlichkeit einer Einzelperson leichtfertig mit denen eines ganzen Volkes gleichsetzt. Ich verstehe den Wunsch von SPIEGEL ONLINE, etwas politisch Unkorrektes zu schreiben, doch dieses Mal handelt es sich um eine billige Provokation, die ich auch im Namen meiner Landsleute, die ihre Empörung über den Artikel geäußert haben, an den Absender zurückweise. Warum werden alle Italiener in diese Sache hineingezogen? Hat Herr Fleischhauer nicht bemerkt, dass da neben dem Verhalten des Kapitäns der "Costa Concordia" - gegen den übrigens strafrechtlich ermittelt wird - Institutionen und Personen waren, die ihr Bestes gegeben haben, um Menschenleben zu retten und die Schäden des Unglücks zu begrenzen? Und ist er wirklich von der Unzuverlässigkeit gar einer ganzen Nation überzeugt? Hat er nie jemanden getroffen, der wie etwa die italienischen Arbeitnehmer, die ich in den vergangenen Tagen in Wolfsburg besucht habe, ihre Arbeit mit allseits geschätzter Würde und Hingabe erledigen?

Ich empfehle Herrn Fleischhauer, Verallgemeinerungen aufgrund der Rasse bleiben zu lassen. Das sind Dinge von Gestern, denen niemand nachtrauert. Er möge sich entspannen und uns in Italien besuchen. Er wird ein großes, gastfreundliches Land vorfinden, das zu überraschendem Elan Einzelner und der Gemeinschaft fähig ist, das Vorurteile mit einem Lächeln zu nehmen und nicht seltsame Tribunale zu improvisieren sucht.

Mit freundlichen Grüßen

Michele Valensise

Botschafter der Italienischen Republik

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