Kampfabstimmung um Listenplatz eins So zerlegt sich die Saar-Linke

Thomas Lutze: Der 51-Jährige kann auf eine weitere Amtszeit im Deutschen Bundestag hoffen
Foto:Oliver Dietze / dpa
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Lauter Applaus und vereinzelte Pfiffe unterbrechen die Verkündung des Wahlergebnisses. Erst nach einem kurzen Moment steht offiziell fest: Thomas Lutze hat es geschafft. Der 51-Jährige kann auf eine weitere Amtszeit im Deutschen Bundestag hoffen. In einer Kampfkandidatur setzte er sich am Sonntag gegen den Landtagsabgeordneten Dennis Lander durch. Erneut steht er damit auf Listenplatz eins, dem einzig aussichtsreichen Platz für die Wahl im September. Lutzes Sieg ist gleichzeitig eine herbe Niederlage für Oskar Lafontaine. Der Nachmittag in Neunkirchen könnte der Anfang vom Ende in der Karriere des Linken-Mitgründers gewesen sein.
Denn die Listenaufstellung für die Bundestagswahl war auch eine Entscheidung im Machtkampf zwischen Lafontaine und Lutze, der die Saar-Linke seit Jahren spaltet. Es geht um gekaufte Stimmen, gefälschte Unterschriften und letztlich die Frage, wer den größten Einfluss in der Landespartei hat. Der Riss verläuft mitten durch die Reihen des Verbands: Der Vorstand hielt zu seinem Vorsitzenden, die Fraktion hingegen zu ihrem Chef Lafontaine.
So soll Lutze laut Lafontaine-Lager die Listenaufstellung zur Bundestagswahl 2017 manipuliert haben. Der Vorwurf: Er habe Stimmen für ihn mit 50-Euro-Scheinen, verpackt in braunen Umschlägen, entlohnt und Mitglieder in voll besetzten Bussen zur Abstimmung bringen lassen. Außerdem habe der Bundestagsabgeordnete, so steht es in einer Strafanzeige der früheren Landesvorsitzenden Astrid Schramm vom Dezember 2020, Mitgliederlisten gefälscht, um seine Wahl im Nachhinein abzusichern. Die Staatsanwaltschaft Saarbrücken ermittelt wegen Urkundenfälschung, Lutzes Immunität ist aufgehoben. Der bestreitet alle Vorwürfe.
Eine Woche vor dem Parteitag überschlugen sich dann die Ereignisse: Der Landesvorstand forderte in einer öffentlich einsehbaren Erklärung den Rücktritt Lafontaines. In einer Pressemitteilung hieß es: »Oskar Lafontaine und Astrid Schramm sind die treibenden Kräfte in der seit Jahren praktizierten innerparteilichen Schlammschlacht zulasten der Partei.« Es sei eine Frage des Anstands, dass sie ihre Parteimitgliedschaft aufgeben sowie ihre Landtagsmandate zurückgeben.
Einen Tag danach meldete sich die Landtagsfraktion zu Wort. Sie wiederholte Lafontaines Forderung nach einem Rückzug Lutzes und verwies auf das laufende Ermittlungsverfahren. Die Linke im Saarland habe nur durch eine Neuaufstellung, die »das Betrugssystem der vergangenen Jahre überwindet«, eine Zukunft. Lafontaine selbst hatte vergangene Woche noch mal nachgelegt und die Bundespartei kritisiert. Sie habe die »betrügerischen Machenschaften im saarländischen Landesverband« nicht beendet.
Nur einer fehlte: Lafontaine
Der Streit hat auch das kuriose Bündnis Lafontaine-Lander hervorgebracht. Der 27-jährige Lander gehört der sogenannten Bewegungslinken an. Sie will, dass die Linke Klassenpolitik mit Klimaschutz und dem Kampf gegen Rassismus verbindet. Damit setzen sich die Mitglieder der Bewegungslinken klar von Sahra Wagenknechts Kurs ab. Zuletzt hatten sie die Ehefrau Lafontaines und ehemalige Fraktionsvorsitzende im Bundestag immer wieder scharf kritisiert, beim Bundesparteitag dem Wagenknecht-Lager erhebliche Niederlagen zugeführt.

Dennis Lander: In seiner Bewerbungsrede setzte er sich für eine Klimapolitik im Sinne von Fridays für Future ein
Foto: Oliver Dietze / dpaMacht, Einfluss, Betrug – und zwei verfeindete Männer, die um ihre politische Zukunft kämpfen. Die Voraussetzungen für einen ereignisreichen Nachmittag waren also gegeben. Umso mehr, weil der Landesvorstand trotz gegenteiliger Empfehlungen aus der Bundespartei daran festhielt, die Listen nicht über Delegiertenkonferenzen aufzustellen, sondern über die Einberufung aller Mitglieder. Im Stadion von Borussia Neunkirchen, dem Heimatverein des Europameisters und U21-Trainers Stefan Kuntz, fand der Parteitag statt. Etwas über 360 Mitglieder kamen. Nur einer fehlte, von dem aber immer wieder die Rede war: Oskar Lafontaine.
Einen besseren Ort für dieses Schauspiel hätte sich die Partei nicht aussuchen können. Denn der Grabenkampf dominierte von Beginn an die Veranstaltung. Immer wieder fühlte man sich an das Fußballspiel zweier verfeindeter Mannschaften erinnert. Gleich zu Beginn verließen ein Mann und eine Frau die Zuschauertribüne und postierten sich vor dem kleinen Zelt, in dem die dreiköpfige Versammlungsleitung um Thomas Lutze saß. »Was bringt euer Streit unseren Wählern?« und »Wähler zuerst! Mehr Demokratie statt Hinterzimmer« stand auf den Schildern, die sie hochhielten. Doch ihrer Forderung nach einem Ende der Streitereien sollte nicht gefolgt werden. Im Gegenteil.
Denn schon bei den Abstimmungen zum Wahlverfahren wurde deutlich, wie zerstritten die Saar-Linke ist: Dennis Weber von der Linksjugend forderte fünf Minuten mehr Zeit bei der Aussprache zu Kandidaten um Listenplatz eins, die Gegenrede des Vorstandes folgte sofort. »Um einen Krieg zu verhindern«, schlug ein anderes Mitglied die Auszählung der Stimmen vor. Das dauerte dann insgesamt deutlich länger als jene Verlängerung um 10 Minuten, zu denen der Vorschlag bei Annahme geführt hätte. Am Ende fiel er durch. 1:0 für Lutze.
Pfiffe, Applaus, Buh- und Bravo-Rufe
In seiner Bewerbungsrede setzte sich Lander für eine Klimapolitik im Sinne von Fridays for Future ein, den Kampf gegen Rassismus. Die Streitereien müssten ein Ende haben. »Ich bin kein Teil davon. Ich bin unabhängig«, rief er. Applaus, aber auch demonstratives Gelächter. Lander ließ sich davon nicht beeindrucken: Kämpferisch pochte er auf einen sozial-ökologischen Wandel. Er redete frei, gestikulierte.
»Es ist Zeit für einen Neuanfang. Und ich würde gern für diesen Neuanfang stehen.« Erneut großer Applaus. Nicht nur junge Leute, auch viele ältere Mitglieder klatschen. Nur vereinzelte Pfiffe und Buh-Rufe. Als Erster meldete sich Weber: »Wer uns als Linksjugend immer wieder Steine in den Weg legt, das sind Lutze und seine Getreuen«, rief er gegen einen zunehmenden Geräuschpegel aus Pfiffen, Applaus, Buh- und Bravo-Rufen.
Lutze selbst, der Angegriffene, war da schon von seinem Platz in der ersten Reihe aufgestanden. Die Anspannung war ihm anzusehen. Leiharbeit, Mindestlohn, Klimapolitik – er betonte die politischen Inhalte. Der Bundestagsabgeordnete hielt sich an seinem Rednerpult fest und las seine Rede vor, schaute nur hin und wieder in Richtung der Zuschauer. Als ihm angezeigt wurde, dass er die Zeit schon überschritten hatte, verwies er noch schnell auf die Unschuldsvermutung. Der Applaus war wesentlich schwächer als bei Lander. 1:1. Es schien eng zu werden. Lutze selbst hatte vor Beginn der Veranstaltung die Chancen auf 50:50 beziffert.
Vor allem bei der Aussprache, die sich an die Reden der Kandidaten anschlossen, zeigte sich die Spaltung der Partei. Die Kreisvorsitzende aus Sankt Wendel, Heike Kugler, ging Lutze scharf an. »Udo, lässt du mich bitte mal ausreden«, rief sie dem Moderator zu, der sie auf die begrenzte Zeit hingewiesen hatte. Am Ende schrie sie: »Schämt euch und packt ein.« Wieder Pfiffe, Applaus, »Lüge« hallte es mehrmals durch das Stadion. Was würde Lutze machen, wenn im Bundestagswahlkampf Anklage erhoben werde, fragte ein Mann. Es gelte auch für ihn die Unschuldsvermutung, entgegnete Lutze.
»Wir müssten eine neue Partei gründen«
Und immer wieder fiel der Name des Mannes, der gar nicht nach Neunkirchen gekommen war: Oskar Lafontaine. »Was wäre die Partei ohne Oskar Lafontaine? Viele Wählerinnen und Wähler im Saarland wählen die Linke wegen ihm«, klagte eine Frau.
Die Abstimmung zog sich. Als das Ergebnis verkündet wurde, war klar: Die Saar-Linke wird mit Thomas Lutze in den Bundestagswahlkampf ziehen. 199 der anwesenden Mitglieder und damit knapp 56 Prozent votierten für ihn, auf Lander entfielen 150 Stimmen. Etwas über 40 Prozent – ein durchaus beachtliches Ergebnis für den Landtagsabgeordneten.
»Viele wollen den Neuanfang«, sagte er später. Er werde weiter dafür streiten. Wie dieser Partei ein Neuanfang gelingen soll, ist nach diesem Sonntag aber mehr als fraglich. Die Gräben scheinen noch ein Stück tiefer geworden zu sein. Nach der Stimmabgabe für Platz zwei der Landesliste strömten die Mitglieder denn auch aus dem Stadion. Zwei Männer unterhielten sich auf dem Parkplatz. »Korrupter Haufen«, meinte der eine. »Wir müssten eine neue Partei gründen«, der andere: »Ich bin tief enttäuscht. Wenn wir so weitermachen, müssen wir gar nicht antreten. Es ist eine Katastrophe.« Lutze sei ein Betrüger.
Was das Ergebnis für die politische Karriere Oskar Lafontaines bedeuten wird, bleibt an diesem Sonntag unklar. Schwer vorstellbar, dass er sich im Bundestagswahlkampf für den Kandidaten Lutze engagieren wird. Auch ein Antrag auf Parteiausschluss verspricht zumindest kurzfristig keinen Erfolg. Sollte im August Anklage gegen Lutze erhoben werden, so kann laut Wissenschaftlichem Dienst des Bundestages ein Parteiausschlussverfahren nicht mehr durchgeführt werden.
Doch im Saarland stehen im nächsten Jahr auch Landtagswahlen an. Ob sich »Oskar«, wie sie ihn hier nennen, dann auf ein neues Spiel gegen Lutze einlassen wird, ist aber mehr als unklar. Zu dem Ergebnis äußerte er sich noch am Sonntagabend und wiederholte seine Vorwürfe: Es sei zu erwarten gewesen. »Gegen das System manipulierter Mitgliederlisten und fingierter Beitragszahlungen haben normale Mitglieder keine Chance.« Er appellierte an den Bundesvorstand, einzuschreiten und »diesen Betrügereien ein Ende zu bereiten«.
Für die Parteiführung in Berlin kommt der Wirbel im Saarland zur Unzeit. Denn er fällt in eine Zeit, in der die gerade gewählten Vorsitzenden Janine Wissler und Susanne Henning-Wellsow ein neues Kapitel in der von innerparteilichen Kämpfen zerrütteten Partei aufschlagen wollen.
Mitarbeit: Timo Lehmann
Mit Material der Agentur dpa