Sarrazin Jüdischer Genosse verlässt aus Protest die SPD

Thilo Sarrazin darf bleiben, bei den Genossen brodelt es. Die SPD habe Angst vor dem Stammtisch, sagt Sergey Lagodinsky, der Vorsitzende des jüdischen Arbeitskreises der Partei - und erklärt seinen Austritt. Generalsekretärin Nahles verteidigt die Einigung trotz aller Proteste.
Autor Sarrazin: "Es ist immer vernünftig, wenn das Kriegsbeil begraben wird."

Autor Sarrazin: "Es ist immer vernünftig, wenn das Kriegsbeil begraben wird."

Foto: Tim Brakemeier/ dpa

Berlin - Thilo Sarrazin darf in der SPD bleiben - diese Entscheidung der Partei sorgt für Wut und Frustration bei Genossen. Baden-Württembergs SPD-Landeschef Nils Schmid sagte SPIEGEL ONLINE: "Seit 150 Jahren kämpfen wir darum, dass soziale Herkunft kein Schicksal sein darf. Sarrazin stellt das mit seinen biologistischen Thesen massiv in Frage." Er zerreiße mit seinem Buch "all unsere integrationspolitischen Grundsätze". Dass Sarrazin dennoch in der SPD bleiben dürfe, werde die Partei noch zu spüren bekommen, warnt Schmid. "Unsere mühselig aufgebaute Verankerung in der Einwanderer-Community droht Schaden zu nehmen", sagt der 37-jährige Landesvorsitzende.

Wut herrscht auch bei den Migranten in der SPD: "Die SPD ist eingeknickt", klagt Kenan Kolat, Vorsitzender der Türkischen Gemeinde in Deutschland und Leiter des Arbeitskreises Migration beim SPD-Parteivorstand. Auch der Berliner Landeschef Michael Müller ist enttäuscht über den Ausgang des Parteiordnungsverfahrens gegen Sarrazin. "Ich hätte mir ein klares und eindeutiges Urteil gewünscht", sagte er dem Berliner "Tagesspiegel".

Nicht alle belassen es bei verbalem Protest: Der Gründer des "Arbeitskreises jüdischer Sozialdemokraten", Sergey Lagodinsky, hat die SPD wegen der Sarrazin-Entscheidung verlassen. In einem Brief an SPD-Generalsekretärin Andrea Nahles, der der "Süddeutschen Zeitung" vorliegt, schreibt er, "als jüdischer Mensch" habe er die Möglichkeit gesehen, "die lange Tradition der Juden in Deutschland wiederzubeleben, nunmehr gemeinsam mit anderen Minderheiten und Mehrheiten in unserem Lande". Diese Hoffnung aber sei "mit der plötzlichen Rücknahme des Antrags zum Ausschluss des Immer-noch-Genossen Sarrazin gescheitert".

Lagodinsky betont: "Ich kann es in einer Partei mit einem Sarrazin aushalten, aber ich kann es nicht in einer Partei aushalten, die sich aus Angst vor dem Stammtisch einem Sarrazin nicht stellen will. Oder noch schlimmer: die nicht mal weiß, ob sie das will." Der Umgang mit Thilo Sarrazin sei bezeichnend "für die allgemeine Orientierungslosigkeit der Partei im Umgang mit Vielfalt als brennendem Thema unserer Gegenwart. Während die Anhänger Sarrazins triumphieren, stoßen sich zahlreiche Sarrazin-Kritiker ihre Köpfe wund gegen diese Wand der Verschwiegenheit, in die sich die Spitze eingemauert hat." Selten hätten die Facebook-Diskussionen ratloser gewirkt, selten seien zahlreiche junge SPD-Mitglieder betrübter und beschämter über die eigene Partei gewesen als jetzt, schrieb Lagodinsky.

Nahles verteidigt Entscheidung für Sarrazin

SPD-Generalsekretärin Andrea Nahles verteidigt dagegen das Ende des Parteiausschlussverfahrens. Sarrazin habe "seine sozialdarwinistischen Äußerungen relativiert, Missverständnisse klargestellt und sich von diskriminierenden Äußerungen distanziert", sagte Nahles im Deutschlandfunk. Er habe eine "weitreichende Erklärung" abgegeben und sich damit "wieder auf den Boden der Meinungsfreiheit innerhalb der Partei begeben". Nahles betonte, dass es sich nicht um "einen Deal" gehandelt habe. Das rund fünfstündige Schiedsverfahren am Gründonnerstag sei fair abgelaufen.

Man könne nicht einfach jemanden aus der Partei werfen, "auch nicht, wenn er sich noch so kontrovers verhält", sagte Nahles weiter. Mit der Erklärung Sarrazins sei "ein kluger Weg beschritten worden". Die Partei habe somit auch klargestellt, dass sie sich Sarrazins umstrittene Thesen zur Integration, wie er sie in seinem Buch "Deutschland schafft sich ab" dargelegt hat, nicht zu eigen mache. "Es hätte wahrscheinlich keinen Weg gegeben, der alle zufriedenstellt", fügte Nahles mit Blick auf den Ausgang des Schiedsverfahrens hinzu. Die SPD-Politikerin räumte ein, man könne nicht sicher sein, dass Sarrazin nicht noch einmal mit derlei Thesen aufwarten wird. "Aber ich glaube, er weiß auch, was damit dann für ihn auf dem Spiel steht", sagte sie.

Sarrazin selbst freut sich öffentlich über die Einigung. Der frühere Berliner Finanzsenator sollte eigentlich wegen seiner umstrittenen Integrationsthesen aus der SPD ausgeschlossen werden. Bundes- und Landespartei zogen aber ebenso wie weitere Beschwerdeführer ihre Ausschlussanträge zurück, nachdem Sarrazin in einer Erklärung die Vorwürfe gegen ihn als Fehlinterpretationen zurückgewiesen hatte.

anr/dpa/dapd
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