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Hass im Netz »Rückzug ist keine Lösung«

Die SPD-Politikerin Sawsan Chebli schreibt in ihrem Buch über die Twitter-Wut, die ihr entgegenschlägt, ihre Kindheit in Armut und ihre Idee eines digitalen Ehrenamts für ein freundlicheres Internet. Ein Auszug.
aus DER SPIEGEL 12/2023
Foto:

Peter Rigaud

An einem Wochenendmorgen im Oktober 2018 begann mein Tag, wie so oft, mit Twitter. Ich scrollte durch meinen Feed und blickte plötzlich in mein eigenes Gesicht, seriös lächelnd – wie ich fand –, es war ein Foto aus dem Jahr 2014.

An meinem Handgelenk sah man meine Armbanduhr, eine Rolex. Bei dem Bild handelte es sich um ein Pressefoto aus meiner Zeit als stellvertretende Sprecherin im Auswärtigen Amt. Direkt neben meinem Bild hatte der Twitter-Nutzer ein Anzeigenmotiv von meiner Armbanduhr montiert. Ich erfuhr, dass es sich um eine Datejust 36 handelte, Kostenpunkt: 7300 Euro. »Alles, was man zum Zustand der Sozialdemokratie 2018 wissen muss«, so lautete der dazugehörige Kommentar.

Aus: DER SPIEGEL 12/2023

Nichts gelernt

Fehlende Lehrkräfte, baufällige Gebäude, Unterrichtsausfall: Vielen Schulen in Deutschland geht es schlecht. Fachleute sprechen von einer Bildungskatastrophe. Die Akteure verkämpfen sich im föderalen Dickicht – zum Leid der Schülerinnen und Schüler.

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Dann scrollte ich mich durch die Reaktionen:

»Während sich #Chebli von der @spdbt eine Uhr für 7300 € gönnt, kann der Otto Normalverbraucher einen Füller für 489 € im #SPD Shop käuflich erwerben. So geht soziale Gerechtigkeit, das ist die neue Bürgerpartei SPD

»#Sozen in Reinkultur: #Chebli, die in ihrem Leben noch nie etwas Richtiges gearbeitet hat, protzt öffentlich mit ihrer durch Steuerabgaben abgepressten 30.000 Euro #Rolex, während die arme Rentnerin Flaschen sammeln muss.«

Ich atmete tief ein, schloss Twitter und entschied, mich davon nicht weiter stören zu lassen. Ich ging ins Bad und stellte die Dusche an. Während das Wasser auf meine Haut prasselte, hallten die Worte in meinem Kopf wider:

Otto Normalverbraucher? Nie was Richtiges gearbeitet? Protz?

Als Kind war ich froh, wenn ich überhaupt etwas besaß. 1978 wurde ich als zwölftes von dreizehn Kindern in Berlin geboren. Erst mit fünfzehn erhielt ich die deutsche Staatsbürgerschaft. Zuvor waren meine Familie und ich staatenlos, lange Zeit nur geduldet. Bis ich sieben Jahre alt war, wurde mein Vater zweimal abgeschoben. Mit zehn Jahren übernahm ich von meinem älteren Bruder den »Job«, für meine Eltern auf Ämtern zu dolmetschen.

Es gab weder Integrations- noch Deutschkurse. Mein Vater konnte sich durch die Arbeit in einer Hotelküche als Spüler auf Deutsch verständigen. Meine Mutter hätte gern Deutsch gelernt – das Einzige, was sie von Deutschland kannten, waren Nachbarn und Sachbearbeiterinnen. Wie hätten meine Eltern sich Sprache und Kultur aneignen sollen?

Meine jüngere Schwester erzählte mir neulich, dass ich nur zu gern eine abgelegte Levi’s 501 von meinem Bruder anzog, obwohl sie mir bis unter die Achseln reichte und ich einen Gürtel zweimal um den Bund ziehen musste, damit sie nicht runterrutschte. Meine Kindheit eignet sich nun wirklich nicht zur Romantisierung. Es gab ein paar schöne Momente, an die ich mich sehr bewusst erinnere: dass unsere kleine Wohnung beinah einem nachbarschaftlichen Begegnungszentrum glich, dass es eine starke Community und großen Zusammenhalt gab. Dass meine Eltern uns aufrichtig geliebt haben.

Sawsan Chebli (rechts) mit ihrer Mutter und kleinen Schwester Mitte der Achtzigerjahre in Berlin-Wedding

Sawsan Chebli (rechts) mit ihrer Mutter und kleinen Schwester Mitte der Achtzigerjahre in Berlin-Wedding

Foto: Privat

Aber der Alltag war weniger schön: Wir lebten in einer Dreizimmerwohnung in der Lehrter Straße im Stadtteil Moabit. Dort hatten wir keine Heizung, sondern große Kachelöfen in allen Zimmern. Oft brachte mein Vater Küchengeräte, Waschmittel, Kleidung oder auch Spielzeug mit – diese Dinge lagen zum Mitnehmen neben Mülltonnen. Wir reinigten alles mit Chlor und benutzten es. Am Sonntag war immer Flohmarkttag. Da kauften wir günstig Sachen, die wir uns sonst nicht hätten leisten können.

Der Boiler, der das Wasser im Bad erwärmte, wurde mit einem Holzofen betrieben. Ich durfte nur einmal in der Woche »duschen«. Um kein Wasser zu verschwenden, füllte meine Mutter dazu Wasser in einen Plastikeimer, den meine kleine Schwester und ich uns auch noch teilen mussten. Ich erinnere mich genau, dass mein Vater Holz sammelte und uns Kinder zusammentrommelte, um es kleinzuhacken, in Kartons zu packen und in die zweite Etage zu schleppen – eine harte Arbeit.

Mir war sehr früh bewusst, wie arm wir waren, weil meine Mitschülerinnen immer ein bisschen mehr hatten als ich. Jedes Schuljahr erhielten wir vom Sozialamt Beihilfen für Lehrmaterialien. Deswegen musste ich jedes Mal eine Liste zusammenstellen und diese zur Unterschrift in der Schule vorlegen. Damit gingen meine Eltern zum Sozialamt, um Geld zu erhalten. Ich habe es gehasst, denn es fühlte sich würdelos an. Besonders demütigend war es, wenn eine Grundschullehrerin begann, Schulmaterialien, etwa Wachsmalstifte, von der Liste zu streichen, weil sie der Meinung war, dass ich diese Dinge nicht brauche.

»Mein Shitstorm, der heute als »Rolexgate« bezeichnet wird, fühlte sich in den ersten Tagen schrecklich an, als würde ich sprichwörtlich mit Schmutz beworfen.«

Sawsan Chebli

Ausgrenzung wurde damals bewusst in unserem Alltag installiert: Menschen wie wir bekamen beispielsweise ihre Sozialleistungen nicht in Bargeld ausgezahlt. Stattdessen erhielten wir Gutscheine für Lebensmittel. Diese Bons galten nur für bestimmte Supermärkte und Lebensmittel, alle Genussmittel waren von vornherein ausgeschlossen. Außerdem verfielen sie – hatte man bis zu einem bestimmten Datum etwa nicht alle Mehlgutscheine eingelöst, verlor der Coupon seinen Wert. Ich erinnere mich an Pakete von Speiseöl, Reis und Mehl, die sich in unserer Wohnung stapelten.

An der Kasse fiel man mit so einem Gutschein natürlich auf. Es gab Kassiererinnen, die nicht wussten, ob sie diese Bons überhaupt annehmen durften. Selbst der Lebensmitteleinkauf wurde zum Spießrutenlauf. Wie, frage ich mich heute, soll Integration unter solchen Umständen funktionieren?

Damals hätten meine Geschwister und ich von einer Plattform wie Twitter kaum zu träumen gewagt: einem Ort, an dem man sofort Probleme publik machen kann.

Entsprechend stieg an diesem Sonntag nach dem Tweet mit meiner Uhr Wut in mir auf. Ich wickelte mich in ein Handtuch, griff noch tropfend nach meinem Handy und begann zu tippen:

»Wer von euch Hatern hat mit 12 Geschwistern in 2 Zimmern gewohnt, auf dem Boden geschlafen & gegessen, am Wochenende Holz gehackt, weil Kohle zu teuer war? Wer musste Monate für Holzbuntstifte warten? Mir sagt keiner, was Armut ist.«

Sawsan Chebli Anfang der Neunzigerjahre in Berlin

Sawsan Chebli Anfang der Neunzigerjahre in Berlin

Foto: Privat

Der Shitstorm daraufhin: enorm. In den verbalen Angriffen mischten sich Rassismus, Sexismus und die Klassenfrage. Immer wieder wurde diskutiert, warum ich als Sozialdemokratin so eine »Protzuhr« tragen würde. Jemand postete:

»Was willst du eigentlich noch mehr? Du bist erfolgreich, du wohnst wahrscheinlich toll, du hast einen Top-Job, du verdienst mehr als der Durchschnittsdeutsche, du bist auch noch Staatssekretärin! Dieses Land hat dir Dinge ermöglicht, die deine Heimat oder wo auch immer du da herkommst, da wärst du nie so weit gekommen!«

Ein Funken Wahrheit steckt in dieser Aussage. Palästinensische Flüchtlinge genießen im Libanon noch nicht einmal freie Berufswahl. Deutschland hat mir meinen Aufstieg ermöglicht. Aber ich habe es nicht geschafft, weil das System dieses Landes jedem Menschen Aufstiegschancen bietet, ich habe es trotz des Systems geschafft. Fakt ist: Wer arm ist, kommt aus dieser Armut nur selten raus.

Was mich so wütend macht: Meine Eltern werden in Hass-Kommentaren im Netz übelst beschimpft, weil sie von Sozialhilfe oder Grundsicherung gelebt haben. Fakt ist: Das Gehalt meines Vaters als Küchenhilfe hat nicht ausgereicht, um uns Kinder zu ernähren. Jetzt, wo ich als seine Tochter den Ausstieg raus aus dem Sozialsystem geschafft habe, werde ich mit Hass überschüttet, denn Menschen wie wir haben gefälligst arm zu bleiben. Solange das Geld also dort ist, wo es schon immer war, scheint es keinen Grund für Empörung zu geben.

»Lange Zeit ertappte ich mich dabei, wie ich auf der Straße öfter über meine Schulter blickte. Nachts gehe ich kaum noch allein aus dem Haus; wenn ich es doch tue, schicke ich meinem Mann meinen Live-Standort.«

Sawsan Chebli

Mein Shitstorm, der heute als »Rolexgate« bezeichnet wird, fühlte sich in den ersten Tagen schrecklich an, als würde ich sprichwörtlich mit Schmutz beworfen.

Dieses verbale Gift, das Mobber im Internet verteilen, bezeichnet man als »Hate Speech«, als Hassrede. »Rede« wirkt dabei verharmlosend, denn Drohungen gehen über die reine Sprache hinaus. Solche Nachrichten gleichen digitalen Gewaltausbrüchen, denn aus Drohungen werden Taten.

Ich habe es selbst erlebt. Vor ein paar Jahren wurde ich tagsüber an einem belebten öffentlichen Platz in Berlin von einem Fremden körperlich angegriffen. Ein glatzköpfiger, tätowierter Mann in kurzer Hose schubste mich und pöbelte mich an, ich solle mich aus Deutschland »verpissen«. Nur wenige Minuten später fuhr eine Frau auf dem Fahrrad sehr knapp an mir vorbei und schrie: »Hören Sie auf! Hauen Sie ab, Frau Chebli!«

Am ganzen Körper zitternd lief ich in mein Büro und versuchte, mich zu sammeln, das Geschehene zu verarbeiten.

Körperliche Angriffe in der »realen« Welt – das hatte eine neue Dimension. Mir war klar, dass dieser Tag trotz meiner »Coolness« und Abgebrühtheit deutliche Spuren hinterlassen würde. Lange Zeit ertappte ich mich dabei, wie ich auf der Straße öfter über meine Schulter blickte.

Nachts gehe ich kaum noch allein aus dem Haus; wenn ich es doch tue, schicke ich meinem Mann meinen Live-Standort. Ich kann mich auf den Straßen meiner Heimatstadt nicht mehr frei bewegen, weil ich fürchte, dass Schatten aus dem Internet aufsteigen und sich an jeder Ecke meines Alltags manifestieren könnten.

Wir brauchen demokratische Stimmen, die sich einmischen

Der Hass, der mich über digitale Kanäle erreicht, darf nicht als Meinung oder Diskursbeitrag bezeichnet werden. Er ist nichts anderes als Säure in Form von Buchstaben. Diese Attacken treffen nicht nur mich, sondern alle lauten und sichtbaren Menschen.

Was kann man dagegen tun? Das Erste, was Betroffene hören, ist ein banaler Ratschlag: »Wie wär's mit weniger Social Media? Wenn du aufhörst zu twittern, verschwindet auch der Hass.« Ja, klar. Nicht Hater und ein verrohter Ton sind das Problem, sondern vermeintlich geltungssüchtige Menschen. Rückzug ist keine Lösung.

Dieses Buch ist ein Aufruf an die Zivilgesellschaft. Sie darf sich nicht zum Schweigen bringen lassen von den wenigen Hetzern und Demokratiefeinden. Wir brauchen demokratische Stimmen, die sich einmischen, die Stellung beziehen und sich im Angesicht von digitaler Gewalt mit Opfern solidarisieren.

Kapazitäten dafür sind da: Rund 87 Prozent der Deutschen sind in den sozialen Netzwerken unterwegs, unmöglich, dass allen die Verbreitung von Hass und Falschinformationen egal ist. Laut Bundesfamilienministerium haben sich 2019 knapp 29 Millionen Menschen ehrenamtlich engagiert. Übersetzt heißt das: Jede dritte Person setzt sich hierzulande für den gesellschaftlichen Zusammenhalt ein.

Sawsan Chebli (Mitte) 2013 mit ihren Eltern

Sawsan Chebli (Mitte) 2013 mit ihren Eltern

Foto: Privat

Ich wage ein Gedankenexperiment: Was wäre, wenn man die Zahl der Engagierten, also 29 Millionen Menschen, in »Followern« rechnen würde – Anhänger eines gerechteren und fairen Internets ohne Hass und digitale Gewalt? Mein Gott, wie laut wäre dieser Chor aus Engagierten! Mit dieser Lautstärke könnten wir so leicht die Hater übertönen, die sich ja nur so viel Gehör verschaffen können, weil wir als Zivilgesellschaft noch viel zu leise sind.

Der Einstieg für jede und jeden ist denkbar einfach – es bedarf nur eines Accounts auf einer Social-Media-Plattform und eines beherzten Einschreitens, wenn digitale Randalierer ihren Schmutz ausschütten. Und natürlich die richtigen politischen und juristischen Rahmenbedingungen: Damit Menschen angstfrei im Netz laut werden können, müssen Plattformen ihrer Verantwortung nachkommen und Bedrohungen, Beleidigungen und Falschinformationen konsequenter löschen.

Wir sollten uns vor Augen führen, wie viel Verantwortung jede und jeder Einzelne von uns trägt. Vielen ist womöglich gar nicht klar, dass ihre Nachrichten die Menschen aus Politik und dem öffentlichen Leben wirklich erreichen. Das tun sie. Und sie hinterlassen etwas bei den Empfängern, Gutes wie Zerstörerisches. Sie können beflügeln, unterdrücken, verletzen, inspirieren, zerstören oder aufrichten.

Die gesellschaftliche Debatte über die Art und Weise, wie wir leben wollen, ist ohne das Internet und soziale Medien nicht mehr zu verhandeln.

Die SPD-Politikerin Sawsan Chebli, Jahrgang 1978, war bis 2021 Staatssekretärin im Berliner Senat. Der Text ist ein Auszug aus ihrem neuen Buch »Laut« (Goldmann, erscheint am 29. März).

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