Schäubles Muslim-Studie 500 Seiten politischer Sprengstoff
Berlin - In Düsseldorf steht der mutmaßliche Kofferbomber Youssef al-Hajdib vor Gericht. Im Herbst diesen Jahres wurden in Deutschland im Sauerland drei Terrorverdächtige festgenommen. Sie stehen unter dem dringenden Verdacht, verheerende Anschläge in Deutschland geplant zu haben.
Bevölkerung und Sicherheitsbehörden sind alarmiert ob der islamistischen Bedrohung aus dem eigenen Land. Jetzt hat das Bundesinnenministerium eine neue Studie vorgelegt. Das Ziel: den Nährboden für extremistische Gruppen und potentielle Täter politisch motivierter Gewalt auszuloten. "Die Studie trifft in höchstem Maß relevante Aussagen darüber, inwieweit sich Muslime in Deutschland mit der hiesigen Verfassungsordnung identifizieren", heißt es aus dem Innenministerium.
1750 Gläubige wurden in Telefoninterviews befragt, so viel wie noch nie in einer deutschlandweiten Untersuchung zu Muslimen. Auf über 500 Seiten untersuchen die Hamburger Wissenschaftler Katrin Brettfeld und Peter Wetzels in der Studie mit dem Titel "Muslime in Deutschland" religiöse Einstellungen, das Verhältnis zum Rechtsstaat, Sprachenkenntnisse, Bildung - und Gewaltbereitschaft.
Zwar bekennt sich in der Befragung eine klare Mehrheit der Befragten zu Demokratie und Rechtsstaat, die Ergebnisse der Studie sind dennoch erschreckend - nicht nur in Bezug auf die Einstellungen von Muslimen.
- 40 Prozent aller befragten Muslime in Deutschland sind "fundamental orientiert". Merkmale dafür sind: eine enge religiöse Bindung, hohe Alltagsrelevanz der Religion, die starke Ausrichtung an religiösen Regeln und Ritualen verbunden mit einer Tendenz, "Muslime die dem nicht folgen auszugrenzen sowie den Islam pauschal auf- und westliche, christlich geprägte Kulturen abzuwerten". Dies ist der Studie zufolge aber bei weitem nicht gleichzusetzen mit dem Umfang des Potenzials demokratieskeptischer, intoleranter oder gar islamismusaffiner Haltungen unter Muslimen.
- 14 Prozent aller Befragten haben "problematische Einstellungsmuster" - das bedeutet laut Studie, dass sie entweder eine hohe Distanz zu Demokratie, und/oder eine hohe Akzeptanz zu politisch-religiös motivierter Gewalt zeigen. 6 Prozent aller Befragten (hochgerechnet auf alle drei Millionen Muslime in Deutschland 180.000) sind der Studie zufolge "gewaltaffin", sie sind also theoretisch mobilisierbar. Das bedeute, dass sie massive Formen politisch-religiös motivierter Gewalt akzeptierten.
- Die Verfasser der Studie wiesen aber zugleich darauf hin, dass Distanz zu Demokratie und Rechtsstaat sowie autoritäre Einstellungen bei Muslimen nicht häufiger vorkommen würden als bei einheimischen Nichtmuslimen.
- Sehr viele Muslime fühlen sich der Studie zufolge in Deutschland diskriminiert - besonders viele jugendliche Muslime sind mit Ausgrenzung konfrontiert. So kennzeichnet die Untersuchung etwa 14 Prozent der einheimischen Jugendlichen als "stark ausländerablehnend bis feindlich".
- Knapp 40 Prozent der muslimischen Befragten halten "physische Gewalt als Reaktion auf die Bedrohung des Islams durch den Westen für legitim". Hier komme es laut Studie letztlich darauf an, was als Bedrohung aufgefasst wird und was hier im Einzelfall "dem Westen" zugeschrieben, mit diesem identifiziert wird.
- Fast 9 Prozent halten die Formulierung, dass Selbstmordattentate feige seien und der Sache des Islam Schaden zufügen, für falsch. Ähnlich sind auch die Angaben zur Bezeichnung terroristischer Gewaltakte als aus Sicht des Islam zu verurteilender Taten (schlimme Sünde; Beleidigung Gottes). 7,4 Prozent der Befragten akzeptieren diese Aussage nicht.
Die Studie unterscheidet zwischen jungen Muslimen und der älteren Bevölkerungsgruppe. So seien Jugendliche und junge Erwachsene eine besondere Risikogruppe bezüglich Radikalisierung oder Gewalt.
Studenten als Risikogruppe
Unter den potentiellen Radikalen und Gewalttätern sind nicht nur sozial benachteiligte Muslime. Auch muslimische Studenten in Deutschland haben problematische Einstellungen und sind skeptisch gegenüber der Demokratie, so die Studie.
- Mehr als 8 Prozent der muslimischen Studenten gehen demnach auf Distanz zur Demokratie, etwa 6 Prozent von ihnen sind gleichzeitig demokratieskeptisch und befürworten die Scharia.
Dieser Risikogruppe aus hoch gebildeten jungen Muslimen schreibt die Studie weitere Merkmale zu: Sie würden sich oft in der Opferrolle sehen, fühlten sich seit dem 11. September 2001 unter Generalverdacht.
Die Berliner Islamismusexpertin Claudia Dantschke haben vor allem die Zahlen zu den "fundamentalen Einstellungen" überrascht. Der Wert von 40 Prozent liege deutlich höher, als sie bislang angenommen habe. Die Zahl, dass 6 Prozent der befragten Muslime als gewaltbereit eingestuft werden, sei für den Verfassungsschutz eine neue wichtige Richtgröße, damit werde das Dunkelfeld der für Gewalt mobilisierbaren Muslime erhellt, so Dantschke. Der Verfassungsschutz sei bislang stets immer von 1 bis 3 Prozent gewaltbereiten Muslimen ausgegangen.
Dantschke widerspricht den Äußerungen des Soziologen Werner Schiffauer, der in der "Frankfurter Rundschau" erklärt hatte, junge Muslime würden sich radikalisieren, weil sie sich mental oder sozial diskriminiert und ausgrenzt fühlten. "Ausgrenzung ist nur ein Aspekt", so Dantschke zu SPIEGEL ONLINE. Wenn es um nationalistische Einstellungen geht, sei der Zusammenhang zwischen Benachteiligung viel deutlicher als bei religiösem Extremismus.
"Die Minderheit ist stark und wirkungsmächtig"
Das legt auch die Studie dar: "Es wäre verkürzt, islamisch konnotierte Radikalisierung, alleine auf religiöse Orientierungen oder auf Exklusionserfahrungen zurückzuführen", heißt es dort. Radikalisierungspotential bestehe bei einer relevanten Teilgruppe trotz des Vorliegens eigentlich hoher Partizipationsoptionen in der Bildung. Eine Erklärung für die Radikalisierung sei eher darin zu suchen, dass die betreffenden Muslime sich selbst stellvertretend als Opfer einer Ausgrenzung und Unterdrückung von Muslimen auf nationaler und internationaler Ebene sähen.
Kristina Köhler, Islamexpertin der CDU, überrascht der hohe Anteil an fundamental oder gewaltbereit eingestellten Befragten nicht: Die Zahlen, sagte sie SPIEGEL ONLINE, entsprächen ihren Beobachtungen, wonach Andersgläubige von strengreligiösen Muslimen abgewertet oder ausgegrenzt würden - absurderweise auch gemäßigte Muslime. "Wir müssen die verfassungstreue Mehrheit der Muslime in Deutschland stärken - denn es sind die gemäßigten Muslime, die unter den Radikalen am meisten leiden." Die Minderheit sei allerdings stark und wirkungsmächtig, weil sie in der Regel besser organisiert sei und sich in der Öffentlichkeit äußere.
Akgün fordert Auflösung der Islamkonferenz
Die Islambeauftragte der SPD im Bundestag, Lale Akgün, fordert nach der Veröffentlichung des Berichts durch das Innenministerium die Auflösung der Islamkonferenz von Wolfgang Schäuble (CDU). Der Bundesinnenminister könne nicht solche Ergebnisse an die Öffentlichkeit geben und dann weiter mit den fundamental-eingestellten Muslimen aus den großen islamischen Verbänden an einem Tisch sitzen. Zwar seien die Verbandsvertreter nicht gewaltbereit, aber islamisch-autoritär. "Sie verführen junge Muslime", so Akgün. Wenn Schäuble die Islamkonferenz aufrecht erhalten will, müsse er sich auch mit rechtsradikalen Parteien wie den Republikanern an einen Tisch setzen, um über Extremismus zu diskutieren.
Das Problem Rechtsextremismus weise im Übrigen ähnliche Strukturen auf wie radikaler Islamismus, urteilt Akgün. "Die Studie zu Muslimen in Deutschland sagt ja, dass wir zwei Risikogruppen haben. Erstens die benachteiligten Menschen, die sozial am Rande der Gesellschaft stehen und dann die hoch Gebildeten." Im Rechtsextremismus sei diese Struktur genauso.
Unionsfraktionsvize Wolfgang Bosbach mahnt nach der Studie konkrete Schritte an: Wir müssen Imame in Deutschland ausbilden, Islamunterricht an deutschen Schulen anbieten." Außerdem müsse auf Integration und nicht zuerst auf Zuwanderung gesetzt werden. "Aber natürlich ist auch das kein Patentrezept, wir können nicht die Gedanken der Menschen kontrollieren."
Der Grünen-Politiker Omid Nouripour erklärt: "Wir haben ein Demokratieproblem auf allen Seiten" - das zeige die Studie. Es sei an der Zeit, dass sich Demokraten, egal welchen Glaubens zusammenschließen.
Die großen muslimischen Verbände in Deutschland fordern "einen behutsamen und nicht einseitigen Umgang mit den Ergebnissen dieser Studie". Die Einstellung von jungen Muslimen zu Demokratie und Rechtsstaat unterscheide sich nicht signifikant von Nichtmuslimen. Dies sei eines der wichtigsten Ergebnisse dieser Arbeit, sagte der Sprecher des Koordinierungsrats der Muslime, Bekir Alboga.
Man sei weiterhin davon überzeugt, dass das richtige Verständnis vom Islam den Muslim gegenüber Extremismus immun mache. Der Islam lehne Radikalität ab und sein richtiges Verständnis stärke und fördere das Vertrauen, sagte Alboga.