Bochum Empörung über Toleranz-Preis für Erdogan

Sein Land schikaniert die Medien und unterdrückt Minderheiten - doch der türkische Premier Erdogan soll in Bochum einen Preis für Toleranz und Menschlichkeit verliehen bekommen. Politiker der Grünen sind empört, Armenier, Kurden und Aleviten haben zu Massenprotesten aufgerufen.
Premier Erdogan: Preis für Menschlichkeit

Premier Erdogan: Preis für Menschlichkeit

Foto: ADEM ALTAN/ AFP

Berlin - Es hätte ein angenehmer Abend werden können für Recep Tayyip Erdogan. Am kommenden Samstag wird der türkische Premier in der Bochumer Jahrhunderthalle stehen, es ist seine erste Auslandsreise nach einer mehrwöchigen Auszeit.

Ex-Bundeskanzler Gerhard Schröder wird Erdogan einen Preis überreichen, den "Steiger-Award", mit dem "Toleranz" und "Offenheit" gewürdigt werden sollen. Erdogan bemühe sich "seit Jahren um einen demokratischen Wandel in seinem Land", so die Veranstalter. Längst sei die Türkei ein wichtiger Partner Deutschlands und Europas geworden. "Für diese Bemühungen, aber auch als deutliches Zeichen für gelebte deutsch-türkische Freundschaft" erhalte der türkische Regierungschef den Preis in der Kategorie Europa. Erdogan nehme die Auszeichnung stellvertretend für das türkische Volk in Empfang.

Den Preis hat der Bochumer Unternehmer Sascha Hellen 2005 ins Leben gerufen. Neben Erdogan werden am Samstag die anderen Preisträger stehen, Königin Silvia von Schweden, Alt-Bundespräsident Horst Köhler, die Schauspielerin Christiane Hörbinger, der Modeschöpfer Wolfgang Joop. Die regierungsnahe türkische "Zaman" jubelt wegen der Ehrung bereits über Erdogans "internationale Führungqualitäten".

Tatsächlich aber wächst die Empörung darüber, dass Erdogan den Preis bekommt. Ausgerechnet der Politiker, der seine Landsleute in Deutschland regelmäßig vor zu viel Anpassung warnt, soll jetzt für seine Verdienste um die deutsch-türkischen Beziehungen ausgezeichnet werden? Der Mann hat sein Land zwar zu neuem Wohlstand geführt - aber unter seiner Regierung werden kritische Journalisten inhaftiert. Und nun soll er einen Preis für seine "Menschlichkeit" bekommen?

Aufruf zu Großdemonstrationen

Wenn der Preis 50 Jahre nach Vereinbarung des deutsch-türkischen Anwerbeabkommens stellvertretend für die guten Beziehungen der beiden Länder verliehen werde, "ist die Vergabe akzeptabel", sagt Cem Özdemir zu SPIEGEL ONLINE. Wenn der Preis aber "persönlich an den Ministerpräsidenten zur Würdigung von Menschlichkeit und Toleranz gehen soll, dann wirft das zurecht kritische Fragen auf", so der Grünen-Chef. Er räumt ein, dass in der Türkei zwar inzwischen offener "über die armenische Frage" diskutiert werde als noch vor zehn Jahren. Jedoch sei die "eingeschränkte Meinungs- und Pressefreiheit sowie die Willkür und mangelnde Sensibilität im Umgang mit ethnischen und religiösen Minderheiten, wie wir es zuletzt bei den Aleviten gesehen haben, weder als menschlich noch als tolerant zu bezeichnen." Die Preisvergabe sei vor diesem Hintergrund "mehr als bedenklich", so Özdemir.

Kritik übte auch die türkischstämmige Grünen-Bundestagsabgeordnete Ekin Deligöz: "Ich finde die Preisverleihung nicht richtig. Erdogan hat in seinen Reden nicht dazu beigetragen, dass die Menschen, deren Lebensmittelpunkt hier ist, sich stärker mit Deutschland identifizieren", so Deligöz zu SPIEGEL ONLINE.

In den vergangenen Tagen hat sich bereits heftiger Widerstand formiert: Armenier, Kurden und Aleviten rufen zu Großdemonstrationen gegen die Preisverleihung auf. Mehr als 20.000 Demonstranten sollen bereits angemeldet sein. Die Verleihung sei ein "Schlag ins Gesicht aller Minderheiten in der Türkei, die tagtäglich staatlich organisierter 'Intoleranz und Unmenschlichkeit' ausgesetzt sind", so die Alevitische Gemeinde in Deutschland. Der Zentralrat der Armenier erklärte: "Wir protestieren dagegen, dass Erdogan ein Preis verliehen wird, der für Toleranz und Menschlichkeit wirbt und Verdienste um das Zusammenwachsen Europas würdigt. Der türkische Ministerpräsident steht in allen Punkten für genau das Gegenteil." Erdogan besitze unter keinem Umstand die Tugenden Toleranz, Offenheit, Menschlichkeit und Gradlinigkeit. "Im Gegenteil: Er konterkariert sie", heißt es in einer Erklärung des Bundesverbands der Migrantinnen.

Schriftsteller Giordano übt scharfe Kritik an Laudator Gerhard Schröder

Tatsächlich steht es in der Türkei beim Thema Menschenrechte und freie Meinungsäußerung nicht zum Besten. Erst vor wenigen Wochen sackte das Land im Index für Pressefreiheit der Organisation "Reporter ohne Grenzen" weiter ab - und rangiert jetzt auf dem 148. von 179 Plätzen, kurz vor Pakistan. Der Konflikt mit den Kurden ist längst nicht beigelegt. In den vergangenen Monaten eskalierte er immer wieder, es gab Anschläge und Bombardements. Zudem jagen die Islamisten in Erdogans Regierung ihre Gegner mit der gleichen Unerbittlichkeit, mit der sie einst selbst verfolgt wurden. Sie schikanieren Künstler und Intellektuelle, sie knebeln Medienhäuser, sie lassen Kritiker verhaften. Und zuletzt nannte Erdogan den französischen Gesetzentwurf, der die Leugnung des Völkermords an den Armeniern im Osmanischen Reich unter Strafe stellt, ein "Massaker an der Meinungsfreiheit".

Die Laudatio auf Erdogan hält Gerhard Schröder - auch daran gibt es massive Kritik. Der Schriftsteller Ralph Giordano hat einen offenen Brief an den Altbundeskanzler verfasst, in dem er gegen die Preisverleihung protestiert. "Sie, Herr Altbundeskanzler, haben einmal Putin einen lupenreinen Demokraten genannt. Lob und Ehrung eines Politikers der einen überwältigenden Völkermord leugnet, wiegen noch schwerer."

Die Dortmunder SPD-Ratsfrau Marita Hetmeier erklärte: "Der Herr Bundeskanzler a.D. scheint Gefallen daran zu finden, sich Potentaten mit zweifelhafter demokratischer Gesinnung als Lobhudler anzudienen. Herr Erdogan und 'der lupenreine Demokrat' Putin passen allerdings auch zusammen wie Pat und Patachon."

Bei den Preisverleihern herrscht ob der Proteste offenbar Nervosität. Die Organisatoren haben mittlerweile auf ihrer Internetseite eine neue Erklärung veröffentlicht. Die Auszeichnung sei "ausdrücklich keine Bewertung der innen- und außenpolitischen Aktivitäten des türkischen Ministerpräsidenten". Stattdessen solle die Auszeichnung das "Miteinander von Deutschen und Türken ehren, welches gerade im Ruhrgebiet besonders gelungen ist."

Mitarbeit: Florian Gathmann
Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren
Mehrfachnutzung erkannt
Bitte beachten Sie: Die zeitgleiche Nutzung von SPIEGEL+-Inhalten ist auf ein Gerät beschränkt. Wir behalten uns vor, die Mehrfachnutzung zukünftig technisch zu unterbinden.
Sie möchten SPIEGEL+ auf mehreren Geräten zeitgleich nutzen? Zu unseren Angeboten