Schröder beim DGB Dicke Backen, dünne Luft

In keinem Land der Welt gingen am 1. Mai so viele Menschen auf die Straße wie in Deutschland: rund eine Million. Viele protestierten hier zu Lande gegen die Reformpläne des Kanzlers. Der ließ sich jedoch bei seinem Auftritt auf der DGB-Hauptkundgebung auch durch ein lautstarkes Pfeifkonzert nicht aus dem Konzept bringen.



Neu Anspach/Hamburg/Berlin - Bundeskanzler Gerhard Schröder wusste vor dem Auftritt: Es wird kein Heimspiel beim DGB, die Luft wird dünn für ihn. Und wie erwartet wurde er mit lauten Pfiffen auf der zentralen DGB-Kundgebung in Neu-Anspach bei Frankfurt am Main empfangen. Doch kampflustig verteidigte er seine "Agenda 2010". "Dies ist der Weg, den wir gehen müssen", sagte er.

Schröder warb vor rund 6000 Zuhörern für seine Reformpläne. Unter anderem will er die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes reduzieren, die Arbeitslosenhilfe mit der Sozialhilfe zusammenlegen und das Gesundheitswesen reformieren: "Wer glaubt, es reicht aus, an Althergebrachtem festzuhalten, der verkennt die Herausforderungen." Die Sozialversicherungs-Beiträge dürften nicht uferlos steigen, "weil die Beschäftigten mehr netto in der Tasche brauchen". Vehement sprach er sich gegen neue Schulden auf Kosten der nächsten Generation aus. Zugleich appellierte er an die Wirtschaft, mehr Ausbildungsplätze zu schaffen. Wenn diese Appelle nichts brächten, werde die Regierung gesetzlich handeln.

Die Probleme der sozialen Sicherungssysteme verschwiegen zu haben, sei leider lange genug an der Tagesordnung gewesen. Die Bundesregierung habe jetzt mit den notwendigen Änderungen bei der Arbeitslosen- und Sozialhilfe sowie im Gesundheitssystem begonnen. "Ich werbe für die Reformen, ausdrücklich auch hier", sagte der Kanzler. Die Proteste habe er "zur Kenntnis genommen", sie hätten aber "keine reale Grundlage". Das Pfeifkonzert aus den Reihen der Gewerkschafter kommentierte Schröder mit den Worten, wer nur pfeife und nicht zuhöre, beweise, "dass er zwar volle Backen hat, aber wenig im Kopf".

Das von den Gewerkschaften geforderte Konjunkturprogramm zur Ankurbelung der Wirtschaft lehnte Schröder erneut ab. "Es wäre nicht fair, mit Schulden ein solches Programm zu finanzieren. Wir dürfen nicht aufessen, wovon unsere Kinder und Kindeskinder morgen und übermorgen auch noch leben wollen." Notwendig sei eine Balance zwischen einer vernünftigen Sparpolitik und dem Setzen von Wachstumsimpulsen.

Sommer fordert soziale Gerechtigkeit

Der Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes, Michael Sommer, sagte auf derselben Kundgebung, die Gewerkschaften würden sich Plänen für eine "unsoziale Minijob-Republik" in den Weg stellen. An der Reformagenda müsse sich mehr ändern als nur Details. Nötig sei nicht der Abbau des Sozialstaats, sondern sein sozial gerechter Umbau.

Sommer kritisierte, Schröder wolle mit seinen Reformen die Unternehmer schonen und nur die Arbeitnehmer belasten, und warf dem SPD-Chef vor, wie sein CDU-Amtsvorgänger Helmut Kohl mit dem Wort Reform lediglich Sozialabbau kaschieren zu wollen. "Wer immer erfolgreich modernisieren will, der muss wissen, dass das nur auf der Basis sozialer Gerechtigkeit gelingen kann", sagte der DGB-Chef.

Mit der geplanten Kürzung der Arbeitslosenbezüge, der Einschränkung des Kündigungsschutzes und der Privatisierung des Krankengeldes würde kein einziger Arbeitsplatz geschaffen. Die Gewerkschaften seien gesprächsbereit und wüssten, dass Reformen dringend nötig seien. Heftige Kritik übte Sommer auch an den Arbeitgebern.

Der DGB-Chef forderte Reformen des Gesundheits- und Bildungswesens sowie der Rentensysteme. Darüber hinaus verlangte Sommer die Wiedereinführung der Vermögensteuer, mehr Investitionen und das Vorziehen der nächsten Stufe der Steuerreform auch zum Preis einer höheren Verschuldung. Sommer schlug eine Solidarversicherung vor, in die alle einzahlen und bei der alle Einkünfte berücksichtigt werden müssten.

Auch der Vorsitzende der Gewerkschaft Ver.di, Frank Bsirske, übte scharfe Kritik an Schröder und zog Parallelen zur Kohl-Regierung. Er forderte von der Bundesregierung ein Investitionsprogramm von 20 Milliarden Euro sowie die Einführung einer Ausbildungsplatzabgabe. Gleichzeitig kündigte der Gewerkschaftschef harten Widerstand gegen die von Schröder geplanten Einschnitte im Sozialbereich an. "Der Versuch, Sozialabbau als Reformpolitik zu verkaufen, erinnert an die Regierung Kohl", sagte er vor etwa 4500 Zuhörer bei der 1.Mai-Kundgebung in Hamburg.

Bsirske kritisierte vor allem die von Schröder geplante Absenkung der Arbeitslosenhilfe in Richtung Sozialhilfe, die Verschiebung von Kosten des Krankengeldes zu den Versicherten und die höhere Übernahme von Gesundheitskosten durch die Bürger. "Dafür sind diese Leute nicht gewählt worden", sagte er über die SPD- und Grünen-Politiker und warf Schröder den Bruch von Wahlversprechen vor. Bsirske sprach die Sorge aus, dass durch die Absenkung des Sozialhilfeniveaus auch das Lohnniveau für Wenigverdiener wie Wachleute oder Verkäufer sinken könnte.

Bsirske legte eine Liste von Forderungen vor, mit der es wieder mehr Wirtschaftswachstum geben solle. Neben dem Investitionsprogramm und der Ausbildungsplatzabgabe will er eine Wiedereinführung der Vermögensteuer und eine Mindeststeuer für Unternehmen. Außerdem solle die Bundesregierung es mit der Neuverschuldung nicht so genau nehmen und mehr Kredite aufnehmen. Den von der Bundesregierung geplanten niedrigeren Spitzensteuersatz lehnte er ab.

Der designierte IG Metall-Chef Jürgen Peters machte sich für einen Politikwechsel in Deutschland stark. Die von Schröder'schen Reformen dürften sich nicht darauf beschränken, Arbeitnehmer zu schröpfen, sagte er vor rund 7000 Teilnehmern bei der Kundgebung in Hannover. Die Rücktrittsdrohung von Schröder im Zusammenhang mit den Reformplänen bezeichnete er am Rande der Veranstaltung als falsch. "Das ist kein Politikstil."

Westerwelle schießt gegen Gewerkschaften

Auch Guido Westerwelle meldete sich zum 1. Mai zu Wort. Parallel zu den Gewerkschaftskundgebungen zum Tag der Arbeit 1. Mai verlangte der FDP-Chef die Entmachtung der Gewerkschaften. Mit Blick auf die Mai-Demonstrationen gab Westerwelle ihnen in Berlin eine Mitschuld an den Millionen von Arbeitslosen in Deutschland. "Jeder der draußen mit roten Fahnen vorüberzieht, steht für Tausende von Arbeitslosen." Da die Gewerkschaftsfunktionäre nicht mehr für die Interessen der Arbeitnehmer einstünden, müssten sie entmachtet werden. Zugleich griff Westerwelle auf einer Gegenveranstaltung seiner Partei zu den Mai-Kundgebungen den Kanzler scharf an, bot ihm aber auch erneut Unterstützung bei der Durchsetzung seiner Reformvorhaben an.

Statt der Macht der Gewerkschaften müsse es mehr Autonomie für die Betriebe geben, verlangte der FDP-Vorsitzende auf dem Treffen mit neuen Mitgliedern seiner Partei. Wenn sich 75 Prozent der Belegschaft eines Betriebes mit der Geschäftsführung auf eine Lösung verständigten, müsse diese auch gelten, ohne dass dies von den Gewerkschaften verhindert werden könne.

Abermals kritisierte Westerwelle den seiner Meinung nach zu hohen Gewerkschaftseinfluss auf die SPD. 75 Prozent der SPD-Bundestagsabgeordneten seien gleichzeitig Gewerkschaftsmitglieder. "Eine Funktionärskaste unterwandert damit ein Verfassungsorgan", sagte er unter dem Beifall der rund 500 FDP-Anhänger in der Parteizentrale, vor der zuvor der Berliner DGB-Umzug vorbeigezogen war.

"Eindeutig die richtige Richtung"

Unterstützung erhielt Schröder vom Wirtschaftsweisen Jürgen Kromphardt. Der stellte sich voll hinter die Reformagenda 2010, empfahl aber zugleich auch die Erhöhung bestimmter Steuern. "Die geplanten Reformmaßnahmen gehen eindeutig in die richtige Richtung", sagte das Mitglied des Sachverständigenrats der Bundesregierung in der Tageszeitung "Die Welt". Er fügte hinzu: "Ich würde eine höhere Grund- und Erbschaftsteuer für richtig halten. Das würde auch den Kommunen helfen, weil diese Steuern ihnen zufließen."

Kromphardt lobte besonders die geplante Lockerung des Kündigungsschutzes und die Kürzung des Arbeitslosengeld-Bezuges auf maximal 18 Monate. "In der globalisierten Wirtschaft kann man die milliardenschweren Lasten aus der Sozialversicherung nicht einfach auf die Unternehmer abwälzen."

Laut DGB gingen doppelt so viele Demonstranten auf die Straße wie im Vorjahr. In Schwerin demonstrierten rund 30.000 Jugendliche bei der sechsten "Job Parade" für mehr Chancen auf dem Ausbildungsmarkt. In der Hauptstadt zogen Unter dem Motto "Berlin braucht Arbeit, Bildung und Zukunft" mehrere tausend Teilnehmer vom Brandenburger Tor zum Roten Rathaus.

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