Schwarz-gelber Kompromiss Opposition zerfetzt Gesundheitsreform

Gesundheitsminister Rösler: "Grandioses Scheitern"
Foto: Andreas Rentz/ Getty ImagesBerlin - Erleichtert haben Union und FDP ihre Einigung in der Gesundheitspolitik bejubelt. Denn noch vor kurzem waren CSU und Liberale im Streit darüber mit Beschimpfungen wie "Wildsau" und "Gurkentruppe" aufeinander losgegangen. Nach monatelangem Streit wird der nun beschlossene Kompromiss von der Regierung umso beharrlicher gelobt.
Doch Opposition und Gewerkschaften sind empört. Denn um die maroden Krankenkassen zu stabilisieren, müssen die Versicherten tief in die Tasche greifen.
SPD-Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier warf Union und FDP vor, sie würden ihre Versprechungen nicht einhalten. "Die Regierung startet mit einem grandiosen Wortbruch in die Sommerpause", sagte er. Ihr Versprechen, dass den Bürgern mehr Netto vom Brutto bleibe, habe sie mit der nun beschlossenen Beitragserhöhung in der Krankenversicherung in das Gegenteil verkehrt.
"Es ist auch das grandiose Scheitern eines Gesundheitsministers", sagte Steinmeier am Dienstag in Berlin. stehe vor einem "gesundheitspolitischen Scherbenhaufen". Die SPD forderte den Gesundheitsminister zum Rücktritt auf. Der FDP-Politiker habe selbst erklärt, bei einem Scheitern der wolle ihn niemand mehr als Minister haben, sagte Steinmeier. Dieser Fall sei jetzt eingetreten.
Rösler hatte zuvor Details des Kompromisses bekanntgegeben, den führende Koalitionspolitiker in stundenlangen Verhandlungen gefunden hatten. Künftig können die Kassen demnach einen Zusatzbeitrag in unbegrenzter Höhe verlangen, den Versicherte allein zahlen müssen.
DGB sieht in Regierungsbeschluss eine "Kampfansage"
Damit Versicherte nicht überfordert werden, müssen sie höchstens zwei Prozent ihres Einkommens als Zusatzbeitrag zahlen. Übersteigt der Zusatzbeitrag diese Grenze, gibt es einen Ausgleich aus Steuermitteln. Nach Berechnungen des Bundesversicherungsamts wird der Zusatzbeitrag bis 2014 im Mittel 16 Euro monatlich nicht übersteigen.
Auch der Beitragssatz zur gesetzlichen Krankenversicherung soll 2011 von 14,9 auf 15,5 Prozent steigen. Das brächte rund sechs Milliarden Euro - Arbeitnehmer und Unternehmen sollen jeweils die Hälfte zahlen.
Linkspartei-Chef Klaus Ernst nannte das Konzept vollkommen unsozial. Grünen-Chefin Claudia Roth legte Rösler ebenfalls den Rücktritt nahe. Er und die Regierung hätten "nicht die Kraft für echte Strukturreformen".
Auch von den Gewerkschaften wurde die Einigung in der Luft zerrissen.
Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) sprach von einer "Kampfansage an die Bürger". "Es ist absolut inakzeptabel, dass ausschließlich die Versicherten alle Kostensteigerungen mit nach oben offenen Kopfpauschalen zahlen müssen", sagte DGB-Vorstandsmitglied Annelie Buntenbach.
Die Arbeitgeber sind mit dem Beschluss ebenfalls nicht zufrieden und warfen der Regierung Wortbruch vor. "Die geplante Erhöhung des Arbeitgeberbeitrags widerspricht nicht nur dem Koalitionsvertrag, sondern auch den jüngsten Zusagen der Koalitionsparteien, die Arbeitskosten nicht weiter zu erhöhen", sagte Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt.
Lauterbach sieht Kopfpauschale durch die Hintertür
Auch der Spitzenverband der gesetzlichen Krankenkassen reagierte enttäuscht. "Insgesamt wäre mehr drin gewesen", erklärte die Vorstandsvorsitzende Doris Pfeiffer. "Die Zusatzbelastungen der Versicherten könnten merklich geringer sein." Allein bei den Krankenhäusern und Ärzten seien im kommenden Jahr Einsparungen in Höhe von jeweils zwei Milliarden Euro möglich.
Der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach warf der Regierung vor, mit ihrem Vorhaben werde in der Praxis die kleine Kopfpauschale über die Hintertür eingeführt. "Das ist nichts anderes als eine Kürzung der Nettoeinkommen der Bürger um zwei Prozent", sagte Lauterbach.
Auf der Seite der Kosteneinsparungen gebe es nur Luftbuchungen. Die Beschlüsse bedeuteten einen Systemwechsel: "Damit ist das paritätische System ein für alle Mal kaputt. Das ist der Komplettausstieg. Alle künftigen Kostensteigerungen gehen zulasten der Arbeitnehmer." Der Tag sei eine Katastrophe für die Nettoeinkünfte der Rentner und der Geringverdiener.
Kauder rechnet Beitragserhöhung schön
Dagegen wartete Unionsfraktionschef Volker Kauder mit einer ganz anderen, sehr eigenwilligen Rechnung auf. Der Krankenkassenbeitrag für die Arbeitnehmer werde nicht wirklich erhöht, sagte er. Vielmehr werde der im Rahmen der Bekämpfung der Finanz- und Wirtschaftskrise abgesenkte Beitrag "wieder auch das Niveau festgesetzt, das er vor der Finanzkrise hatte".
Zur Erhaltung des Gesundheitssystems sei es unumgänglich, dass etwas zusätzlich an Beitragsleistung erbracht werden müsse, sagte Kauder. "Es wird niemand überfordert. Es wird ein Sozialabgleich ab dem Zeitpunkt kommen, wo zwei Prozent des eigenen Einkommens überschritten werden."
FDP-Chef Guido Westerwelle erklärte, man habe bei der Gesundheitspolitik "für die dauerhafte Gesundheitsversorgung der Bürger eine Menge erreicht". Das zeige, dass die Koalition Schritt für Schritt die Probleme angehe.
Gesundheitsminister Rösler wertete die Einigung ebenfalls als Erfolg. "Das zu erwartende Defizit in Höhe von elf Milliarden Euro für das Jahr 2011 wird ausgeglichen werden, sagte er. Zugleich räumte er ein, er habe sich einen "echten Umbau des Systems" gewünscht. Dieser sei nun aber zumindest "eingeleitet". Das Konzept liefere "den Einstieg in eine dauerhafte solide Finanzierung des Gesundheitssystems".
Rösler hatte sich für die Umstellung auf eine einkommensunabhängige Pauschale - die Kopfpauschale - stark gemacht. Die CSU lehnte das vehement ab.
CSU sieht sich als Sieger
Führende CSU-Politiker werteten nun den Gesundheitskompromiss als Erfolg für sich. "Die CSU hat sich in allen wesentlichen Punkten durchgesetzt", sagte CSU-Generalsekretär Alexander Dobrindt in Berlin. Auch CSU-Landesgruppenchef Hans-Peter Friedrich betonte, die wesentlichen Forderungen seiner Partei seien erfüllt worden. So sehe die Reform Einsparungen im Milliardenbereich vor, der Zusatzbeitrag für die Versicherten überfordere niemanden, und ein vorsichtiger Strukturwandel sei eingeleitet worden.
Beide Politiker betonten zudem, der Kompromiss habe bewiesen, dass die Koalition handlungsfähig sei und auch schwierige Themen meistern könne. "Die Koalition ist deutlich besser als ihr Ruf", sagte Dobrindt.
Am Mittwoch wird sich der Bundestag mit dem Vorhaben der Regierung befassen. Die SPD-Fraktion beantragte eine Aktuelle Stunde zum Thema "Steigende Beiträge als Ergebnis der Gesundheitsreform - Weniger Netto vom Brutto". Für Donnerstag wurde eine Aktuelle Stunde auf Antrag der Linken einberufen. Sie steht unter dem Motto: "Gesundheitspolitik ohne Perspektive".