Nikolaus Blome

Selbstvertrauen statt Staatsvertrauen In diesem Jahr zählt hoffentlich das Ich

Nikolaus Blome
Eine Kolumne von Nikolaus Blome
Die Regierung setzt auf den starken Staat und kollektive Zuversicht. Doch die Deutschen ticken ganz anders. Sie glauben lieber an sich selbst.
Scholz bei der Neujahrsansprache

Scholz bei der Neujahrsansprache

Foto: Michael Kappeler / dpa

Unter allen Reden des Jahres sind die Weihnachts- und Neujahrsansprache eine Sorte für sich, denn sie ähneln einander sehr. Im Abstand von wenigen Tagen sprechen Bundespräsident und Bundeskanzler mit der ihnen gegebenen Wärme in die Kamera, und hätten sie vorher heimlich die Texte getauscht, würden es nur ihre Redenschreiber bemerken.

Dieses Jahr war das nicht anders und natürlich besonders viel von Zusammenhalt und Zuversicht die Rede; die beiden Herren appellierten an das Wir in uns. »Gemeinsam kommen wir durch diese Zeit«, sprach also Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier. »Zusammenhalt ist unser größtes Pfund«, sagte Kanzler Olaf Scholz. »Halten wir auch im kommenden Jahr zusammen.«

Daran ist nichts Falsches und ebenso wenig Überraschendes, erst recht nicht, wenn man bedenkt, dass die beiden zur SPD gehören, jener Partei, die 2013 über ihren Bundestagswahlkampf schrieb: »Das Wir entscheidet!« Was immer das heißen sollte, der Wahlkampf ging dann schief. Während der Krisen der letzten Jahre jedoch hat der Staat, der schützt, an Zuspruch gewonnen. Das Wir schien trendy und der Einzelne ohne festen Stand im Sturm der Zeiten. »You’ll never walk alone«, wiederholt der Bundeskanzler deshalb zu fast jeder Gelegenheit; er soll den Satz zum zentralen Glückskeks seiner Regierung erkoren haben.

Aber darin steckt nicht nur ein Versprechen an die Bürger, sondern zugleich immer auch deren Verzwergung. Und tatsächlich – Obacht! – scheinen die meisten Leute das mit dem Wir signifikant anders zu sehen: Die Zukunftserwartungen der Deutschen für die eigene Person setzen sich krass ab von ihren Erwartungen für das ganze Land, mithin für das Wir.

Laut einer Umfrage für RTL/n-tv erwarten nur 40 Prozent der Befragten, dass Deutschland 2023 ein »eher gutes Jahr« erleben wird. Für sich persönlich indes erwarten das mit 77 Prozent fast doppelt so viele, und bei den unter 29-Jährigen sind es sogar mehr als 90 Prozent. Das bedeutet nicht, dass die Deutschen etwa hartherzig wären und nur mehr egoistisch an sich allein dächten. Es gibt keine belastbaren Belege dafür, dass die Gesellschaft in der Krise kälter miteinander umgeht als zuvor.

Nun mag man einwenden, dass die Regierung mit annähernd 300 Milliarden Euro an Zuschüssen und Krediten einiges zur individuell guten Stimmung beigetragen hat; Zyniker würden sagen, dass sie den Leuten ein starkes Sedativum verabreicht hat. Und tatsächlich wird das viele Geld als eine Art show of force des Sozialstaats den viel beschrieenen »Wutwinter« zu verhindern geholfen haben.

»Das Selbstvertrauen ist doppelt so groß wie das Staatsvertrauen.«

Dennoch gibt es einen großen Unterschied zwischen Ruhe und Zuversicht. Wer würde schon ernsthaft sagen, dass er oder sie ein gutes Jahr für sich persönlich erwartet, weil man jetzt Wohngeld beantragen darf, mehr Kindergeld bekommt oder im vergangenen Sommer drei Monate Tankrabatt hatte? Als ich ein paar Tage vor Weihnachten Robert Habeck interviewte, fragte ich ihn als Erstes, ob die Deutschen angesichts der manifesten Entlastungen jetzt Grund »zur Zufriedenheit« hätten. Der Minister verneinte, der Begriff komme ihm im Zusammenhang mit der aktuellen Lage zynisch vor.

Der Bundeskanzler seinerseits will das Wort »Zuversicht« in den Fokus seines zweiten Amtsjahres rücken. Doch kollektive Zuversicht braucht ein weithin sichtbares Ziel, eine gemeinsame Perspektive, eine Antwort auf die Frage: Warum machen wir das alles hier? Um Putin 2023 zu stürzen? Um einen ganz anderen Druck für den Klimaschutz zu bekommen, weil Unternehmen und Verbraucher gleichermaßen auf die erhöhten Energiekosten mit Sparen und Innovationen antworten?

Bislang fehlt eine solche Happy-End-Erzählung, welche die Regierung mit ihr zu verbinden und in gemeinschaftliche Zuversicht umzumünzen wüsste. Einstweilen traut die große Mehrheit der Einzelnen nur sich selbst eine gute Zukunft zu, das Selbstvertrauen ist doppelt so groß wie das Staatsvertrauen.

Andersherum wäre es schlimmer, findet der zukunftsfrohe Konservative. Eine schlechte Nachricht kann das nur für kollektivfixierte Sozialklempner sein, wie sie, links der Mitte weiterhin wohnen. Man muss darum kein Libertärer sein, um zu hoffen, dass 2023 das Ich zählt und nicht das Wir: Wenn 77 Prozent der Deutschen mit ihrer Ich-Prognose recht behalten, kann es auch dem Land nur gut gehen. Aber woher kommt diese Zuversicht? Die Frage rührt ans unterschiedliche Menschenbild von politisch links bis rechts.

Mit lageblinder Indolenz hat der Optimismus der Einzelnen nichts tun, wenn man – Achtung: Menschenbild – annimmt, dass die Leute nicht blöd sind. Gut 60 Prozent der Befragten sehen sich laut Allensbach von der Krise mehr oder minder stark betroffen, das ist ein rekordhoher Bevölkerungsanteil. Während der Finanz- und Wirtschaftskrise 2008/09 lag der Wert bei nur rund einem Drittel.

Meines Erachtens hängt das Ganze maßgeblich mit Selbsterfahrung und Selbstschutz der Einzelnen zusammen. Sie haben auch 2022, im großen Krisenjahr, ihren Alltag gemeistert, gut, mittelgut oder auch nur irgendwie. Und sie scheinen sich sicher, dass sie das im nächsten wieder hinbekommen werden. Die Leute im Land trauen sich etwas zu, sie vertrauen sich selbst. Und sie wollen sich nicht bange machen lassen, weshalb sie erst einmal davon ausgehen, dass es viel härter nun wirklich nicht kommen kann. Die Leute machen im besten Sinne eine stiff upper lip. Schlimmer Verdacht also: Deutsche sind besser als ihr Ruf.

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