SPD-Chancen bei Bundestagswahl Aufregung um Gabriel-Äußerungen

Gabriel beim SPIEGEL
Foto: Marc-Oliver SchulzIm Wahlkampf zählt jedes Wort. Jede Aussage wird auseinandergenommen: Wie ist sie zu verstehen? Welchen Interpretationsspielraum lässt sie?
Am Mittwochabend war Sigmar Gabriel zu einem Gespräch beim SPIEGEL eingeladen, anderthalb Stunden beantwortete der Vizekanzler und Außenminister Fragen von Chefredakteur Klaus Brinkbäumer, Auslandsressortleiterin Britta Sandberg und aus dem Publikum. Natürlich ging es dabei auch um die Lage der Partei des langjährigen SPD-Vorsitzenden, dreieinhalb Wochen vor der Bundestagswahl.
In den Umfragen liegt die SPD teilweise 15 Prozentpunkte hinter der Union, auch bei der Kanzlerpräferenz führt Amtsinhaberin und CDU-Chefin Angela Merkel den Demoskopen zufolge deutlich vor ihrem SPD-Herausforderer Martin Schulz. Ist die Wahl also schon gelaufen für Schulz und seine Partei?
Gabriel bekräftigte bei dem Auftritt im SPIEGEL-Haus an der Ericusspitze den Anspruch des SPD-Kanzlerkandidaten, die nächste Regierung anzuführen. Ist ja klar, sonst könnten die Genossen gleich aufgeben. Aber glaubt Gabriel auch noch daran, dass seine Partei am 24. September vor der Union liegen wird?
Dazu waren seine Aussagen in Hamburg zumindest missverständlich. Sie ließen den Schluss zu, dass Gabriel Platz eins bei der Bundestagswahl nicht mehr für erreichbar hält. Die Sozialdemokraten spielen nicht mehr auf Sieg? Am Tag nach dem Gespräch beim SPIEGEL sind die politischen Beobachter in Berlin und Gabriels eigene Partei in Aufregung - und Gabriel sieht sich schließlich gezwungen, seine Haltung klarzustellen: Die SPD habe die Chance, vor der Union zu landen.
Worum geht es genau? Was hat Gabriel gesagt? Hier ist die entsprechende Passage im Wortlaut:
"Und jetzt zu der Frage Große Koalition. Martin Schulz will Kanzler der Bundesrepublik Deutschland werden. Wenn mich - hier vorne sitzt ja ihr Kollege vom 'Stern', Herr Krug (Christian Krug, Chefredakteur der Illustrierten 'Stern' - die Redaktion) - wenn der mich fragt: Was sagen Sie eigentlich zur Fortsetzung der Großen Koalition. Soll ich dann sagen: Ist eigentlich 'ne gute Idee. Weil, da kann der Schulz schon mal einpacken, weil dabei wird er dann nicht Kanzler.
Im Video: Die entsprechende Passage
Ich meine, das ist doch eine absurde Theorie, dass ich Martin Schulz - wenn ich sage, ich finde, dass die Große Koalition nicht unser Ziel sein kann, damit, weil ich will, dass der Kanzler wird, mit der Großen Koalition und Frau Merkel als Kanzlerin ist das schwer für ihn Kanzler zu werden, weil da gibt es schon jemanden. Es ist doch eine absurde Theorie zu glauben, ich würde ihm den Raum der Politikgestaltung klein machen, wenn ich schlicht und ergreifend sage, eine Große Koalition ist deshalb nicht sinnvoll, weil damit die SPD nicht den Kanzler stellen kann. Daraus macht der deutsche Journalismus: Jetzt zwingt Gabriel Schulz auf, dass es keine Große Koalition gibt."
Kurz gefasst konnte man das so verstehen: Eine Große Koalition ist für die SPD nach der Wahl keine Option, weil Gabriel davon ausgeht, dass die SPD in einem solchen Bündnis wieder nur der Juniorpartner wäre.
Die Nachrichtenagentur dpa verschickte um 2.58 Uhr am Donnerstagmorgen eine Meldung mit der Zeile: "Gabriel glaubt offenbar nicht mehr an SPD als stärkste Partei", sie wurde von dpa um 5.11 Uhr erneut versandt. Zeitnah erfuhr Gabriel selbst von dieser Meldung, da er sich am frühen Morgen auf dem Rückflug von Brüssel befand, wo er im Anschluss an den Hamburger Auftritt noch einen Termin gehabt hatte.
Offenbar war dem Ex-SPD-Chef der mögliche Schaden dieser Meldung für den Wahlkampf von Kanzlerkandidat Schulz sofort klar, er nahm jedenfalls unmittelbar Kontakt mit der Parteizentrale auf. Für Gabriel ist die Sache aus zweierlei Gründen heikel: Erstens steht er selbst bei manchen Parteifreunden unter Verdacht, im Wahlkampf vor allem seine eigenen Interessen zu verfolgen - und nicht die der SPD. Zum anderen dürfte die Nachricht "Gabriel schreibt Platz 1 für seine Partei ab" die SPD-Wahlkämpfer wenig motivieren.
SPD verschickt Erklärung
Das Willy-Brandt-Haus verschickte schließlich am Donnerstag gegen 11.30 Uhr eine Erklärung, eine "Richtigstellung des Bundesaußenministers zur heutigen Berichterstattung über eine SPIEGEL-Veranstaltung mit Sigmar Gabriel".
"Der frühere SPD-Vorsitzende und Bundesaußenminister Sigmar Gabriel hat nochmals bekräftigt, dass seine Partei mit dem Kanzlerkandidaten Martin Schulz den Anspruch erhebe, den nächsten Kanzler der Bundesrepublik Deutschland zu stellen und Angela Merkel abzulösen", heißt es in der Erklärung. "Gabriel zeigte sich überzeugt, dass das Wahlergebnis der SPD viel besser sein werde, als die aktuellen Umfragen das heute scheinbar nahelegten." Dann folgt ein direktes Zitat Gabriels: "Das Rennen um die Kanzlerschaft ist völlig offen, denn fast 50 Prozent der Menschen sind noch nicht entschieden. Fast 20 Millionen Menschen wollen sich das TV Duell am kommenden Sonntag ansehen. Und ich weiß, dass Martin Schulz dort seine Chance vor einem Millionenpublikum nutzen wird."
Weiter heißt es in der Erklärung zu Gabriels Auftritt: "Der Sozialdemokrat wies damit zugleich Unterstellungen zurück, er glaube nicht mehr an einen Wahlerfolg der SPD." Und wieder wird Gabriel direkt zitiert: "Wer so etwas behauptet, redet Unsinn." Weiter unten heißt es nochmals: "Gabriel wies in diesem Zusammenhang Unterstellungen ausdrücklich zurück, dass die SPD aufgrund der aktuellen Umfragen keine Chance mehr habe, die Regierung anzuführen."
Nur: Diese Aussage war in der dpa-Meldung nicht enthalten. Die Nachrichtenagentur verbreitet lediglich die Interpretation von Gabriels Aussagen, wonach er nicht mehr an Platz eins für die SPD glaube. Die Frage, ob Schulz dennoch eine Regierungsmehrheit zusammen bekommt nach dem 24. September, ist davon unbenommen. Und ein eindeutiger Satz Gabriels, wonach er weiterhin daran glaube, dass die SPD bei der Bundestagswahl stärkste Partei werden kann, fehlte weiterhin.
Erst auf Nachfrage des SPIEGEL legte Gabriel schließlich nochmal nach - und lieferte die entsprechende Klarstellung: "Die letzten Wochen und Monate haben doch gerade gezeigt, dass auch die SPD die Chance hat, vor CDU und CSU zu liegen", sagte er. "Deshalb ist es gut, dass das TV Duell drei Wochen vor der Wahl liegt. 20 Millionen Zuschauer sind eine große Chance für die SPD, denn dort kann Frau Merkel nicht mehr ausweichen."