Gabriels TTIP-Leseraum Einsicht unter Aufsicht

Keine Fotos, keine Handys, keine eigenen Stifte: Abgeordnete dürfen bald geheime TTIP-Dokumente einsehen - unter strengen Bedingungen. Wirtschaftsminister Gabriel präsentiert den neuen Leseraum voller Stolz.
Gabriels TTIP-Leseraum: Einsicht unter Aufsicht

Gabriels TTIP-Leseraum: Einsicht unter Aufsicht

Foto: TOBIAS SCHWARZ/ AFP

Bundesminister weihen große Dinge ein, etwa Bahnstreckenabschnitte, Studiengänge oder Messen. Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD) hat am Donnerstag etwas sehr Kleines eingeweiht: einen Raum, 35 Quadratmeter, Erdgeschoss, schlammgrauer Behördenboden.

Hübsch ist das Zimmer nicht gerade, aber es hat immerhin eine Bedeutung: der Raum soll TTIP, das Transatlantische Freihandelsabkommen, transparenter machen.

Bislang durften nur Vertreter der Bundesregierung in bestimmte TTIP-Unterlagen gucken, und das auch nur bei der EU-Kommission in Brüssel oder in der US-Botschaft in Berlin.

Ab Montag können darüber hinaus Bundestagsabgeordnete und Mitglieder des Bundesrats, also Landesminister und Ministerpräsidenten, die Papiere einsehen - im eigens eingerichteten "TTIP Lesezimmer" in Gabriels Wirtschaftsministerium, Raumnummer B 0.010.

"Kein Verständnis für Geheimniskrämerei"

"Das haben wir durchgesetzt", sagt Gabriel. Er ist stolz auf das Büro mit acht Arbeitsplätzen und einem "Aufsehertisch". Tatsächlich wird immer ein Vertreter des Ministeriums während einer Lese-Session anwesend sein, die Einsicht findet unter strenger Aufsicht statt.

Handys oder sonstige Aufnahmegeräte müssen abgegeben werden, "Papier und Schreibgeräte werden vom Ministerium bereitgestellt". In Gabriels neuem Leseraum geht es ein bisschen zu wie bei einer Abiturprüfung.

"Ich hätte den Raum lieber im Bundestag gesehen", sagt Gabriel. Das aber hätte die US-Seite nicht mitgemacht, "das war nicht möglich". Also habe er gesagt, "dann machen wir es halt hier", in seinem Haus. Gabriel, der die anhaltende Kritik am Abkommen als hysterisch bezeichnete, zeigt sich inzwischen als Vorkämpfer für mehr TTIP-Transparenz. "Ich hab' kein Verständnis für Geheimniskrämerei", sagt er, "die Verhandlungen leiden darunter, dass es zu wenig Transparenz gibt."

Reaktion auf öffentlichen Druck

Der Vizekanzler reagiert damit auch auf öffentlichen Druck, von allen EU-Staaten hält sich der Anti-TTIP-Protest in Deutschland am hartnäckigsten. In der Opposition, unter Verbraucherschützern, aber auch in Gabriels eigener Partei wird der gigantische Handelspakt kritisch gesehen.

Wird der Leseraum etwas daran ändern? Vielleicht ein wenig. Er ist, wie Gabriel einräumt, allenfalls ein erster Schritt.

  • Der Einblick ist begrenzt: Nicht alle TTIP-Dokumente werden zu lesen sein, sondern nur die sogenannten konsolidierten. Dabei handelt es sich um geheime Zwischenergebnisse, mit Anmerkungen von EU-Kommission und US-Regierung. Man kann daraus die Verhandlungspositionen beider Seiten erschließen, sowie die Bereiche, in denen man sich schon geeinigt hat. Konkret geht es um 13 auf Englisch verfasste Papiere mit mehreren Hundert Seiten. Ein Pons-Wörterbuch steht im Leseraum bereit.
  • Wer liest, muss schweigen: Ihre Erkenntnisse dürfen die Abgeordneten nicht öffentlich diskutieren. Sie verpflichten sich dazu, die Informationen vertraulich zu behandeln. Wer die Regeln bricht, muss "disziplinarische und/oder rechtliche Maßnahmen" fürchten. Hacker sollen keine Chance haben: Die Unterlagen würden über "eine verschlüsselte Leitung" ins Auswärtige Amt transportiert, auf Sticks gespeichert, von einem Boten ins Wirtschaftsministerium gebracht und anschließend auf die Rechner des Leseraums gespielt, die wiederum nicht ans Internet angeschlossen sind.
  • Kopieren verboten: Länger als zwei Stunden am Stück darf sich niemand einlesen. Die Öffnungszeiten sind restriktiver als bei Bürgerämtern: In aktiven Wochen des Bundestags "Montag bis Donnerstag 10 bis 12 Uhr und 14 bis 16 Uhr" und außerhalb der aktiven Wochen "Dienstag und Mittwoch 10 bis 12 Uhr und 14 bis 16 Uhr". Die Dokumente sind digital auf PC gespeichert, Notizen sind ausschließlich handschriftlich erlaubt, die Abgeordneten dürfen aber keine wörtlichen Zitate abschreiben. Es wird genau vermerkt, wer welche Unterlagen sichtet. Experten aus den Abgeordnetenbüros haben keinen Zugang.

Um den Leseraum wurde im Vorfeld lange gerungen. Erst Ende 2015 hatten sich EU und USA darauf geeinigt, die Dokumente auch für nationale Parlamente zu öffnen - zweieinhalb Jahre nach Beginn der TTIP-Verhandlungen. Ob sie in diesem Jahr abgeschlossen werden, ist offen.

Dass Gabriel den Raum bei sich im Haus beherbergt, ist eine schlauer Zug. Als zuständiger Minister treibt er TTIP voran. Gleichzeitig muss er darauf achten, dass der Rückhalt in der Bevölkerung für das Projekt nicht vollends wegbricht. Der Leseraum ist ein verhältnismäßig leichtes Mittel, TTIP-Skeptikern etwas Konkretes entgegenzusetzen.

Frontalunterricht vom Minister: Gabriel im TTIP-Lesesaal

Frontalunterricht vom Minister: Gabriel im TTIP-Lesesaal

Foto: Bernd von Jutrczenka/ dpa

Gleichzeitig will Gabriel auf keinen Fall den Eindruck erwecken, als sei die Bundesregierung vor dem Protest der Straße eingeknickt. Er gibt sich betont gelassen, beinahe gelangweilt: "Natürlich" würden auch Informationen aus dem Leseraum nach außen gelangen, sagt er. Das mache aber keinen großen Unterschied. Es stünde "sowieso vieles im Internet".

Auch das könnte Gabriels Botschaft an diesem Tag sein: Egal wie viel oder wodurch etwas geleakt wird - TTIP dürfte trotzdem kommen.

Video: "Nicht jeder Bürger muss am Prozess beteiligt sein"

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