Sigmar Gabriel zur SPD-Krise "Ein bisschen grau und müde"
SPIEGEL ONLINE:
Herr Gabriel, die SPD feiert heute in Berlin ihr 140-jähriges Bestehen. Was würden Sie Ihrer Partei am liebsten zum Geburtstag schenken?
Sigmar Gabriel: Viele junge engagierte Mitglieder, die mitten im Leben stehen und selbstbewusst die Welt - und damit auch die SPD - verändern wollen.
SPIEGEL ONLINE: Gerade im Jubiläumsjahr wirkt die SPD desorientierter denn je. Woran hapert es?
Gabriel: Zunächst einmal an den Problemen selbst - 4,5 Millionen Menschen ohne Arbeit, viel zu hohe Staatsschulden, niedriges Wachstum und ein Sozialsystem, das auf dem genauen Gegenteil aufbaut. Die richtigen Wege zur Lösung dieser Herausforderungen zu finden, ist nun wirklich nicht einfach.
SPIEGEL ONLINE: Gibt es Verschleißerscheinungen?
Gabriel: Wir sind als Partei sicher auch ein bisschen grau und müde geworden. Es ist ja kein Zufall, dass bei den großen Regionalkonferenzen der letzten Wochen zur Agenda 2010 gerade die jüngeren Mitglieder - die ganz jungen bei den Jusos mal ausgenommen - die Reformvorschläge des Bundeskanzlers unterstützt haben. Sie wissen, dass Willy Brandts Wort auch heute gilt: "Wer morgen sicher leben will, muss heute für Reformen sorgen."
SPIEGEL ONLINE: Wo sind die Felder, auf denen es über die Agenda 2010 hinaus Reformbedarf gibt?
Gabriel: Vor allem brauchen wir starke Impulse für Wachstum und Arbeitsplätze. Die Bindung der sozialen Sicherungssysteme an den Arbeitsplatz wirkt wie eine Strafsteuer auf Arbeit, deshalb müssen wir sie schrittweise davon lösen und sie gerecht über Steuern finanzieren. Um wieder Vertrauen bei privaten Investoren und Konsumenten zu erlangen, müssen wir die Steuern weiter senken. Zeitgleich müssen wir auch die steuerlichen Subventionen abschaffen, um nicht weitere Defizite in den Haushalten zu produzieren. Ganz nebenbei würde das deutsche Steuerrecht damit auch wieder ohne Steuerberater durchschaubar. Der deutsche Mittelstand braucht dringend mehr Beteiligungskapital, sonst wird er nicht wachsen, sondern schrumpfen. Statt verlorener Zuschüsse staatlicher Wirtschaftförderung müssen wir deshalb weit mehr für Beteiligungskapital sorgen.
SPIEGEL ONLINE: Sie haben, als Sie noch Ministerpräsident von Niedersachsen waren, ja immer wieder die Bürokratie angeprangert. Wie steht es da mit der Reformfähigkeit der SPD?
Gabriel: Deutschland muss sein Tempoproblem lösen. Bei uns dauert die Realisierung einer Ortsumgehung von acht Kilometern Länge 13 Jahre Planungs- und fünf Jahre Bauzeit. Entbürokratisierung und eine Reform des Föderalismus gehören natürlich auf eine Agenda 2004, denn nirgendwo auf der Welt gibt es eine solche institutionalisierte Blockade wie zwischen Bundestag und Bundesrat.
SPIEGEL ONLINE: Viele Sozialdemokraten scheinen noch nicht begriffen zu haben, dass in vielen Bereichen zurückgenommen werden muss, was einst als sozialer Fortschritt galt. Warum wirkt die Partei so defensiv?
Gabriel: Ein ganz wesentlicher Grund ist die Art und Weise, wie wir die notwendigen Veränderungen öffentlich diskutieren. Parteien, Wissenschaftler und auch Medien organisieren diese Debatte seit Monaten als Angstkampagne statt als optimistische Zukunftsaufgabe. Mit Ängsten macht man nicht Mut zur Veränderung. Und sie sind auch objektiv unberechtigt, denn wir sind nach wie vor eines der reichsten Länder der Erde.
SPIEGEL ONLINE: Viele Menschen empfinden es anders.
Gabriel: In Polen oder Ungarn müssen die Menschen weit mehr ertragen, nur damit sie in die EU dürfen. Nein, wir haben eine ungeheuer spannende Aufgabe vor uns und allen Grund zum Optimismus: Wir wollen endlich wieder die Kraft dieses Landes für die Zukunft einsetzen, statt sie in der Vergangenheit zu fesseln. Wir geben 150 Milliarden Euro für Schuldentilgung und Rentenzuschüsse aus und ganze 25 Milliarden Euro für Investitionen in die Zukunft. Das ist doch verrückt. Bildung und Wissenschaft fördern, mehr Freiheit für Familien statt immer mehr Abzüge vom Bruttolohn, Auflösung der Ausländer- und Aussiedlergettos, die es inzwischen in Deutschland gibt und auch mehr Engagement gegen Hunger und Armut in der Welt - das sind doch sozialdemokratische Ziele, die Menschen begeistern können.
SPIEGEL ONLINE: Ist nicht die Schröder-Eichel-Wieczorek-Zeul-Generation gerade dabei, die Probleme, die sie beim Schuldenabbau eigentlich anpacken wollte, wieder einmal zu verschieben?
Gabriel: Bei aller Kritik, die auch ich manchmal an den gruppendynamischen Prozessen der achtundsechziger Traditionskreise in der SPD habe: Gegenwärtig erleben wir doch eine wirklich mutige Auseinandersetzung dieser Generation. Es ist doch gerade die Schröder-Eichel-Wieczorek-Generation, die sich an die Herausforderungen heranwagt.
SPIEGEL ONLINE: Und was ist mit Ihrer Generation, der der 40-Jährigen?
Gabriel: Die Generation der Ende 20- bis Ende 40-Jährigen in der SPD muss diese pragmatische Politik nicht nur unterstützen, sondern die programmatische Verantwortung in der SPD an sich ziehen. Die nächsten 20 Jahre werden nicht mit der Generationserfahrung der Achtundsechziger allein zu gestalten sein.
SPIEGEL ONLINE: Im alten Programm, das ja derzeit überarbeitet werden soll, steht ja noch das Wort vom demokratischen Sozialismus. Ist die SPD angesichts des Deregulierungsbedarfs noch eine linke Partei?
Gabriel: Das ist eine interessante Frage. Entweder wir erklären sehr präzise, was denn der Begriff des demokratischen Sozialismus im 21. Jahrhundert inhaltlich bedeutet und was er für uns leisten soll, oder er ist obsolet. Die Programmdebatte der SPD im kommenden Jahr muss das klären. Wer die Zukunft gestalten will, der muss Inhalte klären und darf kein folkloristisches Verhältnis zu Traditionsbegriffen entwickeln. Am Ende heißt Traditionspflege immer: Die Flamme bewahren, nicht die Asche.
SPIEGEL ONLINE: Manche in der SPD sehen die Partei eher auf neoliberalem Kurs.
Gabriel: Für die Neoliberalen der FDP galt immer: "Jeder ist seines Glückes Schmied." Wir wissen: "Nicht jeder Schmied hat Glück." Aber in den letzten Jahren haben wir deutschen Sozialdemokraten diesen Freiheitsbegriff vernachlässigt. Er ist zu stark ein ideeller Begriff geworden, der bezogen auf unsere eigene Gesellschaft kaum noch einen materiellen Gehalt hatte. Weder in der Programmatik noch in der politischen Alltagspraxis. Eigenverantwortung und Selbständigkeit sind aber auch heute noch hohe Werte. Und die Chancen dafür sind mit dem gewachsenen gesellschaftlichen Reichtum auch gewachsen.
SPIEGEL ONLINE: Und das heißt für die SPD?
Gabriel Wir müssen uns diesen Freiheitsbegriff zurückerobern und ihn wieder mit Gerechtigkeit und sozialer Verantwortung verbinden. Letztlich geht es um die Wiederbelebung des Begriffes von Solidarität. Denn das hieß nie "Caritas", sondern immer verantwortliches Handeln für sich selbst und für andere.
SPIEGEL ONLINE: Zu einem anderen Thema. Was ist mit ihren bundespolitischen Ambitionen?
Gabriel: Auf so viele bundespolitische Fragen bei SPIEGEL ONLINE antworten zu dürfen, reicht mir vollkommen.
SPIEGEL ONLINE: Sollte der Kanzler die Krise überstehen, könnte im kommenden Jahr eine Kabinettsumbildung anstehen, bei der Olaf Scholz in die Regierung wechselt. Könnten Sie sich einen Job als Generalsekretär vorstellen?
Gabriel: Das letzte, was die SPD jetzt braucht, sind Personalspekulationen oder Personaldebatten. Wir haben alle in unseren jetzigen Ämtern ausreichend Möglichkeiten, unsere Partei aus der Krise herauszuführen.
SPIEGEL ONLINE: Manche der Auseinandersetzungen um die Agenda 2010 scheinen auch posthume Gefechte zu sein für Verletzungen in der Vergangenheit. Wäre es nicht sinnvoller, die Parteiführung würde einen Kritiker wie den früheren Bundesgeschäftsführer Ottmar Schreiner stärker einbinden?
Gabriel: Man sollte Ottmar Schreiner nicht unterschätzen: Ihn treiben sicher nicht tiefenpsychologische Motive an. Das ist eher bei dem anderen Saarländer der Fall. Ich würde den Agenda-Kritikern in der SPD-Bundestagsfraktion nicht nachgeben - sie aber ernst nehmen. Und zwar dergestalt, dass sie doch bitte nicht nur einzelnen Prinzipien gegenüber verantwortlich sind, sondern auch und vor allem für die Zukunft der SPD insgesamt. Niemand darf sich dieser Gesamtverantwortung entziehen.
SPIEGEL ONLINE: Und wer es doch tut?
Gabriel: Wenn der Parteitag am 1. Juni die Agenda 2010 billigt, gibt es kein Argument, diese Zukunftsfähigkeit dadurch aufs Spiel zu setzen, dass man im Bundestag aus individuellen Gründen dagegen stimmt. Wer das nicht kann, der muss sein Mandat zurückgeben, denn niemand hätte es ohne die SPD.
SPIEGEL ONLINE: Was sagen Sie denjenigen, die sich anschicken, heute zu feiern und zugleich im 140. Jahr der SPD den Sturz des Kanzlers zu riskieren?
Gabriel: Gute Besserung.
Das Interview führte Severin Weiland