Sozialreport
Ostdeutsche fremdeln mit der Bundesrepublik
Sie hadern mit der Demokratie und sehen sich als Bürger zweiter Klasse: Viele Ostdeutsche blicken einer Studie zufolge auch mehr als 20 Jahre nach dem Mauerfall skeptisch auf die deutsche Einheit. Aber auch West-Bürger sind genervt von staatlichen Institutionen.
Berlin/Hamburg - Ihr Ziel ist der Wiederaufbau der Mauer: Für "Die Partei" von Ex-Titanic-Chefredakteur Martin Sonneborn ist das nicht mehr als böse Satire - aber auch im wirklichen Leben äußern Deutsche diesen Wunsch. Im Westen hätten gern elf Prozent der Bundesbürger die Mauer zurück, im Osten würden neun Prozent "am liebsten die DDR wiederhaben". Dies ist das Ergebnis des Sozialreports 2010 der Volkssolidarität. Die Organisation wurde 1945 in der Sowjetischen Besatzungszone gegründet und zählt heute zu den großen Wohlfahrtsorganisationen.
Wie sehen die Menschen in Ost und West ihr Leben in Deutschland - und wie zufrieden sind sie damit? Das ist die zentrale Frage, der das Sozialwissenschaftliche Forschungszentrum Berlin-Brandenburg für den Sozialreport nachgegangen ist. Erhoben wurden unter anderem Daten zu Erwerbsarbeit, Einkommen, Zukunftserwartungen und zum Institutionenvertrauen.
Eines der zentralen Ergebnisse 21 Jahre nach dem Mauerfall: "Die deutsche Einheit wird insgesamt als noch nicht vollendet ( ) bewertet", so schreibt es Gunnar Winkler, Präsident der Volkssolidarität, im Vorwort zur Studie.
Was die Beschreibung des Status quo angeht, sind sich die Befragten aus Ost und West weitgehend einig.
haben sich die Lebensverhältnisse in Deutschland zum größten Teil angeglichen. Die ostdeutschen Haushalte verfügen heute im Schnitt über 75 bis 80 Prozent des Einkommens ihrer westlichen Pendants. Die Schlussfolgerungen fallen dagegen umso unterschiedlicher aus. Während die Westler den Angleichungsprozess damit als weitgehend abgeschlossen betrachten, verweisen die Ostler auf die noch immer vorhandenen Unterschiede und auf die Benachteiligung, wenn es um die Lebenschancen geht.
Nur 25 Prozent der Ostdeutschen fühlen sich "als richtige Bundesbürger"
Dieser unterschiedliche Blickwinkel hat auch spürbare Auswirkungen auf die persönliche Reflexion der eigenen Rolle im Gesamtstaat.
Lediglich 25 Prozent der Ostdeutschen fühlen sich "als richtige Bundesbürger".
59 Prozent sagen, dass sie zwar die
nicht zurückhaben wollen, sich aber auch nicht "richtig wohl" in der Bundesrepublik fühlen.
Dennoch, so die Wissenschaftler, gebe es in den neuen Ländern "eine stabile, zunehmende Identifikation mit der Bundesrepublik". Sie werde besonders von den jüngeren Jahrgängen und Bürgern in gehobenen Lebenslagen getragen.
Die Mehrheit im Westen (44 Prozent) fühlt sich nach der Wiedervereinigung nicht anders als vorher,
20 Prozent fühlen sich seitdem besser
und zehn Prozent gaben an, sich in der "jetzigen Bundesrepublik nicht mehr richtig wohl" zu fühlen.
Grundsätzliche Unterschiede zwischen Ost und West gibt es auch in der Bewertung der Demokratie. In Westdeutschland genießt sie einen höheren Stellenwert als im Osten:
Während im früheren Bundesgebiet 82 Prozent der Bürger die Demokratie für sehr wichtig oder wichtig halten,
sagen dies in den neuen Ländern lediglich 69 Prozent.
Die Zufriedenheit mit der Demokratie ist im Westen höher als im Osten, allerdings fällt sie in beiden Landesteilen relativ niedrig aus:
26 Prozent der Westdeutschen sind mit der Demokratie sehr zufrieden oder zufrieden,
in den neuen Ländern stimmen lediglich 16 Prozent der Bürger dieser Aussage zu.
Unzufrieden oder sehr unzufrieden sind dagegen 45 Prozent (Ost)
beziehungsweise 28 Prozent (West).
Einig waren sich die Bürger in Ost und West der Umfrage zufolge jedoch in ihrer Skepsis gegenüber den staatlichen Institutionen.
So haben lediglich 15 Prozent der Ostdeutschen Vertrauen in den Bundestag,
So bleibt
die geringe Wertschätzung der Demokratie der eklatanteste und alarmierenste Unterschied in den Anschauungen der Ost- und der Westdeutschen. Gleichwohl dürfte die Distanz weniger auf politische Überzeugungen zurückzuführen sein als vielmehr auf die persönliche Lebenssituation und die Frage, welche Perspektiven und Entfaltungsmöglichkeiten sich für den Einzelnen im Zuge der Veränderungen ergeben haben.
In diesem Punkt lag der Anpassungsdruck tatsächlich in erster Linie bei den Ostdeutschen.
In Ostdeutschland mussten sich zwei Drittel der Befragten im Alter zwischen 18 und 65 Jahren eine Erwerbstätigkeit suchen, die nichts mit ihrer ursprünglichen Ausbildung zu tun hatte.
In Westdeutschland sind es dagegen nur 43 Prozent.
Hinzu kommt, dass die ursprünglich als Gewinn empfundene Freiheit, seinen Wohnsitz frei zu wählen, inzwischen eher als Druck wahrgenommen wird: Um den Lebensunterhalt zu verdienen, sind viele gezwungen, in eines der westlichen Bundesländer zu ziehen. Die Daheimgebliebenen sind dabei nicht weniger betroffen. Der Arbeitsmarkt trocknet zunehmend aus, die Städte und Dörfer leeren sich, das soziale Leben leidet.
Trotzdem fällt die Gesamtbilanz der
im Westen deutlich kritischer aus als im Osten.
So meint etwa jeder dritte Westdeutsche (35 Prozent), dass ihm die Einheit deutlich mehr Verluste als Gewinne beschert hat.
Bei den Ostdeutschen ist dies nur etwa jeder Vierte (24 Prozent).
42 Prozent der Ostdeutschen sehen für sich hingegen Gewinne,
im Westen sind dies nur 37 Prozent.
Auf der anderen Seite konstatiert der Report auch eine hohe soziale Verunsicherung. Jeder Vierte machte Zukunftsängste geltend, jeder Dritte erwartet, dass sich seine individuelle wirtschaftliche Lage in fünf Jahren eher verschlechtert. Verbesserungen erwarten 19 Prozent.
Schon jetzt lebten 18 Prozent der Deutschen von weniger als 60 Prozent des mittleren Nettoeinkommens (798 Euro pro Monat), in Ostdeutschland sogar noch mehr. Besonders von Armut bedroht seien Arbeitslose, Alleinerziehende, Familien mit drei oder mehr Kindern oder Beschäftigte in prekären Arbeitsverhältnissen, erklärte Winkler.
Mehr als ein Drittel der in Armut Lebenden gehe zudem davon aus, dass sich ihre Zukunftsaussichten weiter verschlechterten. "Wir brauchen klare Strategien zur Armutsvermeidung." Dazu gehörten unter anderem eine Verringerung der Arbeitslosigkeit und so hohe Löhne, dass die Menschen davon leben könnten. "Wir müssen aufpassen in Deutschland, dass Armut nicht zum selbstverständlichen Element wird", warnte der Verbandspräsident.
Noch allerdings sind die Befragten zum großen Teil (59 Prozent) zufrieden mit ihrem Leben - im Osten ist die Zufriedenheit der Studie zufolge dabei etwas geringer als im Westen.
Sozialreport 2010: Demokratiebewertungen - neue Länder und Berlin-Ost, früheres Bundesgebiet und Berlin-West sowie Deutschland insgesamt - 2010 - in Prozent*
neue Länder
früheres Bundesgebiet
Deutschland
Wert Demokratie
sehr wichtig/wichtig
69
82
79
in mittlerem Maße
20
13
14
unwichtig/sehr unwichtig
8
3
4
Zufriedenheit mit Demokratie
sehr zufrieden/zufrieden
16
26
24
teilweise zufrieden
33
41
40
unzufrieden/sehr unzufrieden
45
28
31
Erwartungen an Demokratie
Verbesserungen
7
11
10
keine Veränderung
46
53
52
Verschlechterungen
38
29
31
* Differenz zu 100 = ohne Antwort
Datenbasis: sfz/leben 2010 (gew.)